Viele Frauen mit einer Multiplen Sklerose verzichten in einer Schwangerschaft auf ihre Arzneien. Das führt offenbar zu einer steigenden Krankheitsaktivität - selbst wenn keine neuen Schübe auftreten.

Schwangerschaften sind ein großes Problem bei der Behandlung der Multiplen Sklerose (MS): Die meisten MS-Mittel sind dann nicht zugelassen, keine Therapie ist aber auch nicht die Lösung. Mittlerweile gibt es große Schwangerschaftsregister, die mit der Zeit ein differenzierteres Bild ergeben könnten, welche MS-Mittel nur mit geringen Risiken für das werdende Kind und die Mutter behaftet sind. Derzeit wird den meisten Frauen mit Kinderwunsch aber nahegelegt, auf krankheitsmodifizierende Therapien (disease modifying therapies, DMT) in der Schwangerschaft möglichst ganz zu verzichten. Dafür spricht auch, dass das Schubrisiko während dieser Phase sinkt, nach der Geburt allerdings wieder deutlich steigt.

Schübe sind jedoch nur ein grober Anhaltspunkt für die Aktivität der Krankheit. Biomarker wie Neurofilament-Leichtketten (NFL) können hingegen auch die subklinischen Vorgänge erfassen. Die NFL-Konzentrationen steigen bei axonalen Schäden und korrelieren gut mit den aktiven Läsionen in der MRT sowie der Behinderungsprogression. Die NFL-Werte könnten also Auskunft darüber geben, was nach dem Absetzen der DMT im zentralen Nervensystem von schwangeren Frauen passiert.

Aktuelle Ergebnisse einer Schweizer Studie sprechen dafür, dass man die Schutzwirkung einer Schwangerschaft nicht überschätzen sollte: Wie Neurologen um Dr. Özgür Yaldizli von der Universitätsklinik in Basel berichten, steigen die Serum-NFL-Werte in der Schwangerschaft deutlich an, wenn Frauen ihre DMT absetzen. Die Krankheit wird dann also wieder aktiver.

NFL-Werte um 22 % höher

An der Untersuchung nahmen 63 Patientinnen der Swiss MS Cohort Study teil. Sie hatten insgesamt im Laufe von sechs Jahren 72 erfolgreiche Schwangerschaften und waren zu Beginn im Median 31 Jahre alt, erläuterte Yaldizli auf der virtuellen Tagung der beiden MS-Gesellschaften ECTRIMS und ACTRIMS in 2020. Die meisten hatten vor der Schwangerschaft Natalizumab (20 Frauen), Fingolimod (19 Frauen) und Glatirameracetat (10 Frauen) erhalten. In der Regel setzten sie die DMT ab, nachdem sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatten, und begannen drei Monate nach der Geburt wieder mit der Behandlung der MS. In 14 der Schwangerschaften waren die Frauen jedoch noch über den sechsten Monat hinaus DMT-exponiert, in 39 Schwangerschaften in den ersten beiden Trimestern. Als exponiert galten auch jene Frauen, die ihre Medikamente zwar abgesetzt hatten, aber noch unter ihrem Einfluss standen, etwa bei Medikamenten, die halbjährlich infundiert wurden.

Insgesamt kam es in der Schwangerschaft und kurz nach der Geburt zu 29 MS-Schüben, die meisten davon ereigneten sich im ersten Trimester und post partum. Die Ärzte um Yaldizli schauten sich nun die NFL-Werte in 433 Blutproben an, davon stammte rund ein Viertel aus der Zeit der Schwangerschaft sowie den ersten drei Monaten nach der Geburt. Wenig überraschend gingen Schübe mit verdoppelten NFL-Werten einher, allerdings stiegen die NFL-Werte mit der Zeit auch bei den Frauen ohne Schübe und erreichten im letzten Trimester sowie post partum ein Maximum, um dann mit dem Wiederbeginn der DMT zu sinken. Über die gesamte Schwangerschafts- und Post-Partum-Phase waren die NFL-Werte um 22 % höher als vor der Schwangerschaft. Wurden Schübe und EDSS-Veränderungen berücksichtigt, waren sie noch um 13 % erhöht. Demnach steigen die Werte offenbar auch bei Frauen, die sonst keine erkennbaren Zeichen einer veränderten Krankheitsaktivität aufweisen. Schauten die Forscher auf die exponierten Frauen, verschwand der Zusammenhang: MS-Kranke unter dem Einfluss von DMT entwickeln in der Schwangerschaft also keine höheren NFL-Spiegel, was den Verdacht nahelegt, dass der beobachtete NFL-Anstieg auf dem Absetzen der Medikation und nicht auf der Schwangerschaft beruht.

Strategien zur Fortführung der DMT nötig

Für Yaldizli ergeben sich daraus zwei Schlussfolgerungen: Zum einen lässt sich die Krankheitsaktivität in der Schwangerschaft über NFL gut kontrollieren - regelmäßige Analysen könnten also Frauen mit einem hohen Schubrisiko identifizieren. Zum anderen "sind Strategien nötig, die eine Fortführung der DMT in der Schwangerschaft ermöglichen". So könnte etwa bei Frauen mit sehr aktiver MS-Erkrankung eine andere Risiko-Nutzen-Abwägung für eine DMT erfolgen als bei solchen mit weniger aktiver MS.

MS virtual 2020: 8. ACTRIMS-ECTRIMS Kongress. Late Breaking News. Yaldizli Ö. Interrupting disease modifying treatment for pregnancy in multiple sclerosis - effect on disease activity and serum neurofilament light chain.