Der Tag beginnt mit Liegestützen, vor der Arbeit dann erst mal 20 Kilometer Fahrradfahren und am Abend schließlich noch 10 Kilometer Laufen. Wer täglich so ein Pensum absolviert, muss ein Suchtproblem haben — oder etwa doch nicht? Während Schlagzeilen in der allgemeinen Presse seit Jahren die Existenz der Sportsucht suggerieren („Wenn Sport zur Sucht wird“; „Sportsucht: Wie gefährdet sind Sie?“) , mögen sich Wissenschaftler in diesem Punkt noch keineswegs festlegen.

Unscharfe Diagnosekriterien

Dr. Flora Colledge vom Department für Sport, Bewegung und Gesundheit der Universität Basel zufolge fehlen für das postulierte Phänomen der Bewegungssucht immer noch klare diagnostische Kriterien. Berichte über „Personen, die sich viel bewegen und psychische Probleme haben“ fänden sich zwar auch in der medizinischen Fachliteratur; dabei sei jedoch noch nicht geklärt, ob es sich wirklich um eine Verhaltenssucht handle oder vielmehr um eine Art Zwangsstörung. Auch Essstörungen wie Anorexie oder Bulimie gehen oft mit exzessivem Bewegungsdrang einher; entsprechend schwierig ist die Abgrenzung.

Diagnose per Selbstauskunft

Um herauszufinden, wie hoch der Anteil der möglicherweise bewegungssuchtgefährdeten Personen in der Bevölkerung ist, wird in Studien in der Regel mit Fragebögen gearbeitet. Diese seien in vielen Fällen aber „nicht sehr trennscharf“, so die Sportwissenschaftlerin. Paradebeispiel sei der Exercise Addiction Inventory. Hier sollen Aussagen beurteilt werden wie: „Ich nutze den Sport als Mittel, um meine Stimmung zu verbessern.“ Oder: „Im Lauf der Zeit hat sich mein tägliches Sportpensum gesteigert.“ Für die Triathletin Colledge, die selbst schon an Extremwettkämpfen wie dem „Swissman“ teilgenommen hat, scheint es „sehr fragwürdig“, ob man damit „zwischen begeisterten Hobbysportlern, Profisportlern und Personen mit psychischen Störungen differenzieren“ könne.

Eine deutlich bessere Diskriminierungsfähigkeit schreibt die Forscherin der Exercise Dependence Scale zu: Hier wird zum Beispiel auch danach gefragt, ob die betroffene Person sich wünscht, aufhören zu können (siehe Tab. 1).

Tab. 1 Exercise Dependence Scale (ausgewählte Kriterien)*

Immerhin: In einer Metaanalyse über zahlreiche Fallstudien und qualitative Studien zur Bewegungssucht konnte Colledge mit ihrem Team „bis auf eine Ausnahme alle DSM-5-Kriterien für substanzgebundene Süchte darstellen“. Parallelen gab es nicht nur bei riskanten Sportarten wie Free Solo (einer extremen Form des ungesicherten Kletterns) oder Base-Jumping, sondern auch im Bereich Ausdauer oder Fitness. Andere Charakteristika wiederum passten nicht ins Suchtschema, zum Beispiel das Akzeptieren strenger Rituale oder das schlechte Gewissen, wenn das tägliche Sportpensum nicht absolviert wird.

Dürftige Erkenntnisse aus physiologischen Studien

Bisherige Ergebnisse aus physiologischen Studien helfen nach Colledge kaum weiter. In zwei Studien ließen sich zwar mithilfe der funktionellen MRT (fMRT) Aktivitäten in Belohnungsarealen im Gehirn nachweisen, wenn man den Probanden bewegungsbezogene Stimuli vor Augen führte. Dies war in einer dritten Studie jedoch nicht der Fall. In keiner Studie ließ sich zudem eine Aktivierung im Nucleus accumbens nachweisen; die Struktur spielt eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung von Sucht.

Entsprechend zurückhaltend fällt das Fazit der Wissenschaftlerin zum jetzigen Zeitpunkt aus: „Es könnte Evidenz für die Suchthaftigkeit von Bewegung geben“, so Colledge. Dabei müsse man möglicherweise auch bewegungsspezifische Symptome berücksichtigen.

In Basel sowie an der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport (DHGS) ist jetzt eine Studie angelaufen, in der sowohl psychische als auch neuronale Parameter untersucht werden. Insgesamt 240 Personen sollen sich nach Wunsch der Forscher daran beteiligen. Voraussetzung: Die Probanden müssen sich mindestens sieben Stunden pro Woche sportlich betätigen, auch bei Krankheit und trotz Verletzungen. Neben der Exercise Dependence Scale werden den Teilnehmern noch eine Reihe weiterer Fragebögen vorgelegt, mit denen unter anderem Ängste, Depressionen, kindliche Traumata sowie Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) abgefragt werden. Teilnehmer, die einen bestimmten Schwellenwert überschreiten, sollen zum detaillierten klinischen Gespräch gebeten werden. Den Abschluss bilden fMRT-Untersuchungen. Mit diesem umfassenden Programm erhofft sich Colledge, mehr über das umstrittene Phänomen der Bewegungssucht zu erfahren.