Diabetes betrifft viele Organsyteme, weshalb ein multiprofessionelles interdisziplinäres Management nötig ist. Die Therapie hat sich weg von der glukosezentrierten Denkweise hin zur organ- bzw. vaskulärorientierten Zielsetzung entwickelt. GLP-1-Rezeporagonisten (RA) und SGLT-2-Hemmer tragen dem Rechnung und verbessern nicht nur die Stoffwechseleinstellung, sondern wirken auch kardio- und nephroprotektiv. Im Rahmen der virtuellen Fortbildungsveranstaltung "Innere Medizin fachübergreifend - Diabetologie grenzenlos", in diesem Jahr zum zehnten Mal unter der Leitung von Prof. Petra-Maria Schumm-Draeger, Direktorin des Zentrums Innere Medizin Fünf Höfe in München, stand neben optimaler Prävention und Behandlung bei Diabetes Typ 1 und 2 diesmal auch die Herausforderung durch COVID-19 auf dem Programm.

figure 1

Die wichtigste Detailfrage beim Typ-1-Diabetes, die evtl. zur Entwicklung neuer Therapieansätze beitragen könnte, lautet: Was sind die umweltbedingten Auslöser für die Erkrankung bei HLA-prädisponierten Kindern und Erwachsenen? Und beim Typ-2-Diabetes: Was ist der Mechanismus für das Versagen der Betazellen, der zur Glukoseintoleranz und somit zum Diabetes führt? Daraus ergeben sich laut Schumm-Draeger für die Diabetesforschung folgende Themenschwerpunkte:

  1. Die Rolle von miRNAs und Exosomen in der diabetesbezogenen Pathophysiologie und Therapie,

  2. künstliche Intelligenz und personalisierte Behandlung,

  3. Geschlechtsunterschiede bei Ätiologie und Komplikationen von Diabetes,

  4. smarte Insuline,

  5. Bewertung und Management von diabetesbedingten Belastungen und Depressionen,

  6. Mechanismen, durch welche die bariatrische Chirurgie die Glykämie beeinflusst,

  7. vom Darmmikrobiom produzierte organische Metaboliten, z.B. 4-Kresol, in der Prävention und Therapie bei Diabetes,

  8. Optimierung des kosteneffektiven Diabetes-Managements.

Organprotektion durch neue Wirkstoffe

Die häufigsten Komplikationen bei Diabetikern ohne kardiorenale Erkrankung sind KHK und Herzinsuffizienz. "Sie erfordern daher präventive Strategien", so Schumm-Draeger. Ein früher Diabetesbeginn führe pro Jahrzehnt zu einem Lebenszeitverlust von 4 Jahren. Der frühe Einsatz von SGLT-2-Hemmern könne bei Diabetikern ohne vorbekannte KHK die Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz und die Progression der CKD signifikant senken. GLP-1-RA verhindern Myokardinfarkte, Schlaganfälle und auch pAVK. Nach Dapagliflozin konnte jetzt in der EMPEROR-Studie auch für Empagliflozin eine kardioprotektive Wirkung nachgewiesen werden. Dabei zeigte sich, dass der günstige Effekt des SGLT-2-Hemmers bereits innerhalb weniger Wochen nach Behandlungsbeginn erkennbar wird, wobei der früheste Effekt bei der Herzinsuffizienz beobachtet wurde. Auch war die Einleitung einer Therapie mit einem SGLT-2-Hemmer trotz noch unzureichender glykämischer Kontrolle zu Studienbeginn mit einer messbaren Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit und einem Rückgang der Dyspnoe assoziiert. In der DAPA-CKD-Studie führte die Gabe von Dapagliflozin zu einer Abnahme des kombinierten Endpunkts aus Verschlechterung der Nierenfunktion und renalem und kardiovaskulärem Tod um 39 % und zwar sowohl bei Diabetikern als auch bei Stoffwechselgesunden mit CKD. "Doch trotz dieser überzeugenden Daten erhalten in der klassischen Sekundärprävention nur 12 % der Diabetiker einen SGLT-2-Hemmer und nur knapp 13 % einen GLP-1-RA", so Schumm-Draeger.

Innovative Insuline

Fortschritte gibt es auch bei den Insulinen. Erste Erfahrungen mit dem Insulin Icodec, das nur einmal wöchentlich appliziert werden muss, sind vielversprechend. Im Vergleich mit einem klassischen Basalinsulin-Analogon schnitt es bezogen auf die Senkung des HbA1c-Wertes etwas besser ab. Die Entwicklung eines oralen Insulins ist schwierig, da ihr Abbau stark und variabel ist. Vorteilhaft ist aber, dass orales Insulin über die Portalvene einen direkten Zugang zur Leber hat. Auch arbeitet man an der Entwicklung eines Smart-Insulins. Dabei wird bei hoher Blutglukose das an einen Träger gebundene Insulin aus einem Insulindepot im Körper in adäquater Menge bis zum Erreichen der Ziel-Blutglukose freisetzt. Bisher wurde diese Technologie aber nur in Tiermodellen erprobt.

Ist der HbA1c-Wert ein Auslaufmodell?

Bisher gilt der HbA1c-Wert als Goldstandard für die Therapiekontrolle bei der Diabetestherapie. In vielen Studien erwies sich dieser Parameter als zuverlässiger Prädiktor für das langfristige Outcome, also für das Risiko von Spätkomplikationen. "Doch es besteht Bedarf an neuen Parametern, die die Qualität der Stoffwechseleinstellung noch zuverlässiger anzeigen und zugleich die Möglichkeit einer raschen Orientierung im Alltag bieten", so Dr. Jens Kröger, Hamburg. Der HbA1c-Wert sei zwar gut etabliert. Auch seien die Zielwerte in Leitlinien genau festgelegt und der Wert könne sehr genau gemessen werden. Nachteil jedoch sei, dass es sich dabei um einen sehr abstrakten, schwer kommunizierbaren Parameter handelt, der durch die Glukosewerte der letzten 8-12 Wochen reguliert wird, und deshalb auch nicht direkt beeinflussbar ist. Auch bietet der HbA1c-Wert keine Informationen zur glykämischen Variabilität oder den Akutkomplikationen.

figure 2

© dottedyeti / stock.adobe.com

SARS-CoV-2 dockt über seine Oberflächenproteine an denen der Körperzellen (ACE2, DPP-4) an. Freie, im Blut gelöste DPP-4 kann die Andockstellen des Virus blockieren.

Die Einführung der kontinuierlichen Glukosemessung (CGM), deren Anwender sich in den letzten Jahren mehr als verdoppelt haben, erlaubt die Erfassung neuer Parameter. Dazu gehören die "Zeit-im-Therapiebereich" (time in range, TiR) und die glykämische Variabilität. Nach den aktuellen Empfehlungen sollte idealerweise die glykämische Variabilität ≤ 36 % betragen und die TiR 70 %, die Zeit im hyperglykämischen Bereich (BZ > 180 mg/dl) 30 % und die Zeit im hypoglykämischen Bereich (BZ < 70 mg/dl) sollte bei < 5 % liegen. Dies gilt sowohl für Typ-1- als auch für Typ-2-Diabetiker. Bei älteren bzw. Hochrisikopopulationen für eine schwere Hypoglykämie wird eine TiR von nur über 50 % propagiert, bei Schwangeren mit einem Gestationsdiabetes aber von über 90 %.

Doch wie korreliert die TiR mit dem herkömmlichen HbA1c-Wert? "Es besteht zwar eine gute Korrelation, aber diese verläuft nicht streng linear", so Kröger. Eine Veränderung von 10 % bei der TiR in einem Bereich zwischen 50 % und 60 % korreliert mit einer Veränderung beim HbA1c um 0,78 %.

Für die Therapieanpassungen bieten die neuen Glukoseparameter Vorteile, denn die Parameter beziehen sich auf kürzere Zeitabstände von ca. 2 Wochen und sind für das Diabetesteam und die Patienten besser verständlich und direkt abzuleiten. So können realistische und verständliche Ziele besser definiert werden. "Die Parameter sind besser zu beeinflussen und im Unterschied zum HbA1c selbst zu prüfen", so Kröger.

Frauen sind anders, Männer auch

In der Kardiologie sind Geschlechtsunterschiede seit langem ein Fakt. Bekannt sind Unterschiede in der Symptomatik beim Herzinfarkt und der zugrundeliegenden Pathophysiologie. Bei Frauen sind Herzinfarkte bei offenen Kranzgefäßen, Dissektionen und Funktionsstörungen sehr viel häufiger als bei Männern. Der Diabetes ist bei Frauen im Vergleich zu Männern ein relativ stärkerer Risikofaktor für KHK und Herzinsuffizienz. Relevante Mechanismen dafür sind die Störung der endothelabhängigen Vasodilatation, eine stärkere Aktivierung entzündlicher Prozesse und eine Störung östrogenabhängiger Schutzmechanismen der Inselzellphysiologie. Im Stadium des Prädiabetes entwickeln Frauen eher Störungen der Glukosetoleranz, Männer häufiger eine Erhöhung der Nüchternglukose, was für das Screening relevant ist. "Und Frauen mit Diabetes sind in Bezug auf ihre kardiovaskulären Risiken schlechter behandelt als Männer", so Prof. Vera Regitz-Zagrosek, Berlin.

Das falsche Mikrobiom - stiller metabolischer Killer?

Metabolische Erkrankungen wie Typ-2-Diabetes und Adipositas führen zu Veränderungen im mikrobiellen Ökosystem des Darms und zwar auf kompositioneller wie auch auf funktioneller Ebene. "Nach aktuellem Stand der Forschung scheint eine kausale Beteiligung der Mikrobiota an der Entstehung und Progression des Typ-2-Diabetes und der Adipositas möglich, wobei die zugrundeliegenden Mechanismen noch immer unklar sind", so Prof. Dirk Haller, Freising. Vermutet wird, dass Mikroorganismen allein oder in Gemeinschaften den Insulin- und Glukosestoffwechsel, die Energieextraktion aus der Nahrung und die Immunfunktion des Darms beeinflussen. Eine populationsbasierte Studie spricht dafür, dass tageszeitliche Schwankungen einzelner Bakterien zur Stratifizierung bei Typ-2-Diabetes genutzt werden können. Zurzeit werden Stuhltransplantationen bei metabolischen Erkrankungen erprobt. "Doch die Studienlage ist noch lückenhaft und widersprüchlich", so Haller.

COVID-19: Ein erhöhtes Risiko für Diabetiker

Schwere COVID-19-Verläufe finden sich vor allem bei Älteren und bei Menschen mit vielen Komorbiditäten. Dabei spielen Adipositas und Diabetes eine wichtige Rolle. "Doch der Diabetes selbst ist nicht das Problem, sondern ein schlecht eingestellter Blutzucker", sagte Prof. Matthias Laudes, Kiel. Deshalb gilt es gerade in Zeiten der Pandemie, eine optimale Einstellung anzustreben. Doch bleiben viele Diabetiker den Schwerpunktpraxen und Ambulanzen aus Angst vor einer Ansteckung fern.

Entsprechende Untersuchungen haben ergeben, dass das SARS-CoV-2-Virus auch die insulinproduzierenden Zellen im Pankreas angreifen kann und somit die Erstmanifestation des Typ-1-Diabetes begünstigt, wobei schwere Verläufe von Ketoazidosen insbesondere bei Kindern beschrieben wurden.

Bei der Pathogenese der Infektion spielen Oberflächenproteine der Zelle wie ACE2 und DPP-4 eine wichtige Rolle, da das Virus an diese Rezeptoren andockt. DPP-4 ist aber nur teilweise zellulär gebunden, ein mehr oder minder großer Teil befindet sich löslich im Blut. Diese lösliche DPP-4 kann SARS-CoV-2 abfangen, bevor das Virus die Zellen erreicht. Mit DPP-4-Hemmern kann der Spiegel löslicher DPP-4 erhöht werden, weil der Körper bei Gabe einer solchen Substanz mit einer Gegenregulation antwortet. In einer ersten Studie wurde die Gabe von Sitagliptin zusätzlich zu Insulin bei 338 Diabetespatienten untersucht. Nach 30 Tagen zeigte sich ein Überlebensvorteil (30-Tagesmortalität 37 % vs. 18 %) (Solerte SB et al. Diabetes Care 2020). "Diese ersten Daten sprechen dafür, DPP-4-Inhibitoren bei Diabetikern als additive COVID-19-Therapeutika einzusetzen", so Laudes.

Quelle: Virtuelle Pressekonferenz "Diabetologie grenzenlos", 26.2.2021