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Prof. Dr. med. Tobias Welte Klinik für Pneumologie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Strasse 1, 30659 Hannover welte.tobias@mh-hannover.de

Ich habe die Ehre, beratend an einer großen Ausstellung im Römer- und Paelizaeus-Museum Hildesheim zum Thema „Seuchen“ mitzuarbeiten, die November 2020 eröffnet wird. Es wird gezeigt, wie sehr die Entwicklung der Menschheit über die Jahrtausende von Infektionskrankheiten beeinflusst wurde. Viren, v. a. Influenzainfektionen, haben heute das größte Potenzial für Pandemien, auch der Anstieg der Resistenzen wichtiger Erreger gegen Antiinfektiva ist besorgniserregend (▶ Beitrag S. 28). Wie in dieser Ausgabe der Pneumo News dargelegt, können wir eine Reihe dieser Infektionen durch Impfungen vermeiden (▶ Beiträge S. 30 u. 35). Auch wenn viele Impfstoffe effektiver sein könnten, wird die Erregerausbreitung durch Impfungen zumindest eingeschränkt. Es ist ein Rätsel, warum die Impfraten in scheinbar aufgeklärten Gesellschaften so gering sind und die (selten ernsten) Nebeneffekte der Impfung gegenüber ihrer Schutzwirkung so überbewertet werden. Das soll aber nicht Hauptthema dieses Editorials sein.

Die „Seuchen-Ausstellung“ hat mich zur Rückbesinnung auf das gebracht, was bis vor nicht einmal hundert Jahren die Medizin ausmachte, nämlich in erster Linie die liebevolle Begleitung des Kranken (cara et cura). Therapie im heutigen Sinne war ja selten möglich. Die Entdeckung neuer Arzneien und die interventionelle Medizin sind Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, wobei sich deren Entwicklung beschleunigt hat. Die moderne Medizin brachte einen radikalen Wandel der Berufsbilder in Pflege und Ärzteschaft mit sich. Vor 100 Jahren fand Medizin überwiegend in konfessionellen Einrichtungen statt, in der Pflege lag die Hauptlast bei Ordensschwestern und -brüdern, die für Brot und Unterkunft und geringe Entschädigungen tätig waren. Zu Beginn meiner Assistentenzeit in den 1980er Jahren war es hier z. T. noch so, in den nicht entwickelten Ländern Afrikas oder Asiens ist es heute noch so. Bei uns ist im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung, die in erster Linie durch die technologische bestimmt wird, der ärztliche und pflegerische Beruf ein „Job“ geworden, der unserem Wirtschaftssystems unterworfen ist. Ich möchte den Fortschritt in der Medizin nicht infrage stellen, auch nicht, dass die Arbeit, die in der Medizin geleistet wird, anständig bezahlt werden muss. Aber Medizin ist eben keine Produktion wie die Autoindustrie und auch kein Bankenwesen. Sie bleibt ein den humanitären Werten verpflichteter Bereich, in dem Wohl und Wille des Kranken, sein Recht auf Heilung, Begleitung und Menschlichkeit im Vordergrund stehen. Fragt man Studierende im ersten Semester oder Pflegeauszubildende im ersten Jahr, ist genau das für die meisten die wesentliche Motivation. Im Gegensatz dazu steht die rasant fortschreitende Veränderung aller Medizinbereiche hin zu einer den Gesetzen des Kapitalismus folgenden „Gesundheitswirtschaft“. Schon der erste Teil des Wortes irritiert, da Medizin sich v. a. mit kranken Menschen beschäftigt, auch wenn Prävention früher ansetzen soll. Der zweite Teil, die Wirtschaft, ist aber nicht nur falsch, er zerstört Wesen und Charakter der Medizin. Es ist kein Zufall, dass die mittlere Zeit im Pflegeberuf nun unter 5 Jahren liegt. 5 Jahre nach der Approbation arbeiten nur noch 48 % der Ärzte direkt am Patienten. Ein System, das die technische Leistung höher vergütet als menschliche Zuwendung, entfremdet den Patienten seinen Betreuern und nimmt diesen die originäre, hohe Motivation für ihre Arbeit.

... Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht...

Wollen wir Medizin im Sinne ihres humanitären und ethischen Auftrags erhalten, brauchen wir mehr Ehrlichkeit auf allen Seiten. Dazu gehört ärztlicherseits die Bereitschaft, die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns stärker infrage zu stellen. Nicht alles, was möglich ist, ist sinnvoll und im Patienteninteresse. Es muss ein gesellschaftlicher Konsens darüber gefunden werden, was medizinisch sinnvoll, ethisch verantwortbar und auch ökonomisch tragbar ist. Dafür muss sich jeder fragen, was er für ein lebenswertes Leben hält und wie er sterben will.

Wenn wir diese Diskussion endlich führen, wird dies zu größeren und nachhaltigeren Veränderungen im Gesundheitssystem führen als alle hektischen Pseudokorrekturen im aktuellen politischen Tagesgeschäft.