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„Anstatt vom Menschen Perfektion und Anpassung an ein wenig perfektes System zu verlangen, brauchen wir ein System, das menschliche Verhaltensweisen antizipiert und toleriert.“

Professor Christof von Kalle

Leiter des gemeinsamen Klinischen Studienzentrums von BIH (Berlin Institute of Health) und Charité

© NCT/Philip Benjamin

Jeder zweite Mensch in Deutschland erkrankt irgendwann in seinem Leben an Krebs. Diese gewaltige gesellschaftliche und medizinische Herausforderung, die die Hälfte von uns betrifft und ein Viertel von uns frühzeitig sterben lässt, versuchen wir mit einem Fünfzehntel unserer Gesundheitsaufwendungen zu bekämpfen. Von diesen ca. 6,5 % der Ausgaben stecken wir bisher so gut wie nichts in Prävention, relativ wenig in die frühe Diagnostik und den Löwenanteil in die Behandlung von Krebspatienten. Würden wir genauso denken und handeln, wenn jeder zweite Deutsche im Laufe seines Lebens bei einem Verkehrsunfall verletzt oder gar getötet würde, oder gäbe es dann einen Aufschrei? Offensichtlich besteht das Problem darin, dass Krebserkrankungen und das Sterben an Krebs in der Abgeschiedenheit von Kliniken und Hospizen stattfinden.

Mit „Vision Zero“ wurde eine breite Initiative aus Wissenschaft und Forschung, medizinischen Fachgesellschaften und Verbänden, Stiftungen, Medien und Industrie ins Leben gerufen, um dem Ziel, dass niemand mehr an Krebs sterben muss, so nahe wie möglich zu kommen.

Mehr Prävention und Früherkennung!

Warum fehlt es bisher an wirklicher Entschlossenheit in Sachen Krebsbekämpfung? Wir denken über Krebs noch immer wie früher über den Straßenverkehr, als Verletzte und Tote im Straßenverkehr als eine Art „Blutzoll des Fortschritts“ galten. Wer im Verkehr zu Schaden kam, war „selber schuld“.

Die Vision Zero für den Straßenverkehr, die vor rund 30 Jahren in Schweden ihren Anfang nahm, geht von der Prämisse aus, dass Menschen nicht immer fehlerfrei handeln. Wenn es an einer Kreuzung zu Schwerverletzten oder Toten kommt, dann wird das untersucht und stattdessen ein Kreisverkehr gebaut. Ein vergleichbares Denken wollen wir nun auch für die Onkologie etablieren. Diese Rigorosität des Handelns müssen wir auf die Krebsbekämpfung übertragen. Anstatt vom Menschen Perfektion und Anpassung an ein wenig perfektes System zu verlangen, brauchen wir ein System, das menschliche Verhaltensweisen antizipiert und toleriert.

Nach unserem heutigen Kenntnisstand könnten die Hälfte der Krebserkrankungen — manche Mediziner sagen zwei Drittel — durch Prävention und Früherkennung vermieden werden. Aber wir tun nicht das, was wir tun könnten oder tun müssten! Nur 10 % der Erkrankungen sind auf angeborene genetische Defekte zurückzuführen, der große Rest auf erworbene. Das heißt, Alterung, Lebensstil und die Umwelt spielen eine zentrale Rolle. Es geht aber nicht nur um diese äußeren Einflussfaktoren. Die Frage ist auch: Wie viel können wir Mediziner beitragen? Wenn es ein gewisses Grundrisiko für eine Erkrankung gibt, dann sollten wir die Diagnostik so gestalten, dass wir das Krebsgeschehen so früh wie möglich erkennen und analysieren.

„Vision Zero“ heißt, wir müssen jeden einzelnen Stein umdrehen und alles anschauen: den Lebensstil, die Präventionsangebote, die (frühe) Diagnostik, die Therapie, die Ursachenforschung, den Studienstandort Deutschland. Wir brauchen auch rasch eine digitale Erfassung und Vernetzung der Daten, so dass jeder Arzt und Patient erfahren und verstehen kann, wie die letzten zehn Fälle gleicher Art behandelt worden sind. Krebserkrankungen sind molekular hochkomplex: Wir brauchen ein System, das aus wissenschaftlichen Daten und aus Erfahrungen lernt. Es muss erkennen, warum etwas funktioniert oder auch nicht funktioniert, es muss in der Lage sein, im Einzelfall das allgemeine Prinzip zu erkennen und laufend Möglichkeiten zur Verbesserung identifizieren. Deshalb brauchen wir die Daten aus der Routinebehandlung für die Fortentwicklung und Qualitätsverbesserung von Therapien.

Christof von Kalle