? Eine langjährige Kollegin erzählt, dass sie nach dem Terroranschlag zwei ihrer kleinen Neffen und deren Mutter aus Israel zu sich nach München geholt hat. Ihre eigenen Kinder im Alter von zehn und zwölf Jahren hätten nach einiger Zeit Bedenken geäußert, ob sie noch ohne weiteres in die Schule gehen könnten. Es seien doch inzwischen antisemitische Vorfälle auch in und um deutsche Schulen passiert. Sie hätten Angst.

!Prof. Dorsch: Meine Kollegin und ich waren erschüttert. Menschen, die Opfer eines antisemitischen Angriffs wurden, sehen oft nur potenzielle Täterinnen und Täter in ihrem nächsten Umfeld. Muss man ihnen dabei erklären, dass man selbst noch nie antisemitisch oder rassistisch gehandelt hat? Dass man jedem Menschen mit Achtung, Respekt und Mitgefühl begegnet? Was ist mit den Kindern, die sich plötzlich aufgrund ihrer Herkunft vor Klassenkameraden fürchten? Gemeinsam haben wir überlegt, was im Kleinen möglich ist. Eltern könnten ihren Kindern ein Vorbild sein und das Gespräch miteinander suchen.

Die derzeitige Diskussion über den realen, teilweise auch nur fantasierten Antisemitismus an unseren Schulen zeigt Defizite in der demokratischen Erziehung von Schülerinnen und Schülern auf: Es muss für alle selbstverständlich sein, dass kein Kind aufgrund seiner Hautfarbe oder Religion Ziel von Spott oder Aggression wird, dass Mobbing zu den feigsten und hinterhältigsten Aktivitäten sozialer Inkompetenz zählt und Gewalt keinen Platz hat.

Lehrkräfte erfahren hier häufig zu wenig Unterstützung durch die Eltern. Auch die beste Schule kann die Versäumnisse der Erziehungsberechtigten nicht vollends kompensieren. Angst ist ein emotionaler Zustand, bei dem Auslöser und Wirkung oft nicht in einem klaren und nachvollziehbaren Verhältnis stehen.

In Gruppen, vor allem in verfeindeten, kann sich wechselseitige Angst verselbstständigen und irreale, fast irrsinnige Ausmaße annehmen.

Was können wir aus pädagogischer Sicht tun, um in Deutschland mit der Angst besser umgehen zu können?

!Prof. Zierer: Angst ist in jedem Fall ernst zu nehmen, gerade bei Kindern und Jugendlichen. In jungen Jahren werden vor allem Vertrauen und Zutrauen für eine gesunde Entwicklung benötigt. Zwillingsforschungen wie die von René A. Spitz ergaben, dass ein emotionales Verhungern trotz bester physischer Versorgung zu nachhaltigen Problemen und Schäden der psychischen Entwicklung führt. Angst ist als emotionaler Zustand gekennzeichnet durch Anspannung, Besorgtheit, Nervosität und innere Unruhe. Sie beeinflusst Menschen, wie sie fühlen, denken und handeln. Im Gegensatz zur Furcht ist Angst ohne klaren Bezug. Der Grund der Angst ist also deutlich weniger bewusst als der der Furcht. Gerade das macht es schwierig, diese Emotion in der nötigen Auseinandersetzung in den Griff zu bekommen. So ist es im geschilderten Fall entscheidend, sich mit den unbewussten Aspekten von Angst zu befassen, diese offenzulegen und zu reflektieren: Was sind mögliche Gründe für diese? Ebenso ist es wichtig, in Gesprächen mögliche Ursachen von Furcht zu thematisieren, um den Kindern insgesamt ein Bewusstsein für die eigene Emotionalität und Situation zu vermitteln: Gibt es benennbare Gründe für das ungute Gefühl? Besteht berechtigter Anlass zur Furcht? Das zwingt zum konkreten Handeln. Wie lässt sich andererseits Angst vermindern? Bei dieser Reflexion wird man nicht umhinkommen, auch das Thema Antisemitismus anzusprechen und in eine Werteerziehung und Demokratiebildung einzusteigen, die in Deutschland auf einem humanistischen Menschenbild beruht, wie es in Artikel eins des Grundgesetzes formuliert ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Damit verbindet sich die Freiheit (im Hinblick auf Meinung und Religion) gleichermaßen wie die Gleichheit von Menschen (unabhängig von Aussehen, Kultur und Herkunft). So paradox es klingt: Fälle wie dieser könnten Eltern, Lehrkräfte sowie Kinderärztinnen und Kinderärzte dazu bringen, aktiver zu werden, Gespräche anzustoßen und Demokratie zu üben. Demokratiebildung ist eine Lebensform und der Garant dafür, dass unsere Kinder auch in Zukunft in Frieden leben können.