Weisen mehrsprachige Kinder zum Zeitpunkt der Einschulung noch schwache Sprachfähigkeiten in der deutschen Sprache auf, so gilt abzuklären, ob eine behandlungsbedürftige Sprachentwicklungsstörung vorliegt.

Die mehrsprachige Entwicklung verlaufe extrem heterogen, betonte Dr. Maren Aktas, Bielefelder Institut für frühkindliche Entwicklung e. V. und Städtisches Klinikum Solingen. Das Problem: Die Diagnosekriterien für eine Sprachentwicklungsstörung, die für einsprachige Kindern gelten, greifen bei Mehrsprachigkeit nur teilweise. An der gesprochenen Sprache könne man kaum erkennen, ob eine Sprachstörung vorliege oder nicht, erläuterte Aktas. Zuverlässige Kriterien sind vielmehr Sprachverarbeitungsfähigkeiten und weitere Merkmale, die zwischen sprachgestörten und nicht sprachgestörten Kindern differenzieren. Den diagnostischen Königsweg beziehungsweise passenden Sprachtest für Sprachentwicklungsstörungen bei Mehrsprachigkeit gebe es allerdings noch nicht.

Drei zentrale Fragen

Um eine Sprachentwicklungsstörung zu diagnostizieren, müsse man sich die Sprachbiografie anschauen, hinzu kommt eine Anamnese, die Evaluation medizinischer Risiken und des Sprachentwicklungsstandes sowie die Prüfung der nonverbalen Kognition. „Bei mehrsprachigen Kindern machen wir das auch, aber in allen Sprachen“, so Aktas. Mittlerweile stünden Visualisierungshilfen zur Verfügung, die dabei unterstützen, die Vielzahl an Daten zusammenzubringen. Entscheidend sei ein interdisziplinäres Vorgehen. Die kinderärztliche Praxis spiele für die Früherkennung und Weichenstellung eine maßgebliche Rolle. Für den Praxisalltag seien drei Kernfragen von Bedeutung:

  1. 1.

    Hat das Kind Probleme in allen Sprachen? Hier gilt es, die Eltern zu befragen und selbst mit dem Kind zu sprechen. Außerdem sollte man evaluieren, wie sich das Kind in der Erstsprache entwickelt hat sowie Eltern und Kind in der Interaktion beobachten. Hilfreich: Konkrete Fragen stellen wie „Wann hat ihr Kind die ersten Worte gesprochen?“

  2. 2.

    Hat das Kind Probleme in der Sprachverarbeitung? Dies könne durch die auditive Kurzzeitgedächtnisspanne evaluiert werden, beispielsweise indem das Kind Zahlenfolgen nachspricht. Darüber hinaus sollte das phonologische Arbeitsgedächtnis durch das Nachsprechen von Kunst- oder Unsinnswörtern untersucht werden.

  3. 3.

    Stagniert die Entwicklung bei guten Lernbedingungen? Aktas gab hierzu eine grobe Einschätzung: Nach spätestens sechs bis zehn Monaten Sprachkontakt sollte das Kind zu Alltagsgesprächen in der Lage sein, nach eineinhalb Jahren sollte es die Kernelemente der deutschen Grammatik erworben haben. Ein Hinweis ist, wenn das Kind unter intensiver Förderung und Therapie keine Fortschritte macht.

Verlaufskontrollen erforderlich

Aktas: „Sicher sein, ob eine Sprachstörung vorliegt oder nicht, kann ich erst, wenn ich Verlaufskontrollen gemacht habe“. Eine einmalige punktuelle Messung reiche nicht aus. Eine sprachspezifische Diagnostik sollte erfolgen, wenn unklar ist, ob das Kind auch in der Erstsprache Probleme hat, resümierte sie, und wenn das Kind im Deutschen anamnestisch keine Fortschritte macht. Eine Logopädie sei zu empfehlen, wenn das Kind in allen Sprachen Schwierigkeiten hat und wenn die Sprachverarbeitungsfähigkeiten beeinträchtigt sind. Keine Indikation sei ein kleiner Wortschatz, aber eine ansonsten gute Sprache; dann sei eine Deutsch-Förderung indiziert. Hellhörig sollte man werden, wenn alle Sprachen betroffen sind, das phonologische Arbeitsgedächtnis schwach ist und es nur geringe Fortschritte gibt, trotz guter Lernbedingungen.

Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Hamburg, 20.-23. September 2023