? Die Mutter des 14-jährigen Roman berichtet, ihr Sohn hätte ihr neulich stolz erzählt: „Die Hausaufgaben in Biologie sind kein Problem mehr! Wir haben diese komische Lehrerin endlich so weit. Schriftliche Hausaufgaben werden nicht mehr benotet, weil niemand kontrollieren kann, wer sie gemacht hat. Wir haben diese dann schlampig oder gar nicht gemacht. Die Lehrerin hat aufgegeben, sie sich überhaupt anzusehen.“ Die Mutter kontaktierte daraufhin die Lehrerin telefonisch. Diese habe ihr erklärt, dass ihr die endlosen Diskussionen zu anstrengend und zeitraubend gewesen seien und dass sie nach Rücksprache mit dem Schulpsychologen ab sofort mehr auf die Belohnung guter Leistungen vertrauen werde statt auf Kontrolle und eventuelle Bestrafung schlechter Schülerinnen und Schüler. Sie fühle sich „verarscht“.

!Prof. Dorsch: „Was macht dieser Erziehungsstil mit Ihnen? Die Mutter: „Ich habe Roman seit seiner Kindergartenzeit fast allein großgezogen, sein Vater war lieb zu ihm, hat ihn aber selten gesehen und die Erziehung mir überlassen. Ich habe den Jungen immer ernst genommen und ihm viele Freiheiten gelassen, aber großen Wert darauf gelegt, dass zwischen uns beiden feste Regeln und Verabredungen eingehalten wurden. Klar gab es gelegentlich Streit, vor allem jetzt in der Pubertät. Dass er bei diesen hinterhältigen Aktionen mitmacht, das stört mich! Und vor allem diese Kuschelpädagogik, mit der die Lehrerin alles kaputt macht, was ich aufgebaut habe! Können Sie das verstehen?“ „Auch ich halte die Entscheidung der Lehrerin für falsch, weiß aber, dass unter Lehrkräften eine ähnliche Haltung nicht selten ist. Roman beschreibt sie treffend mit den Worten, ‘sie hat aufgegeben‘. Des Öfteren entwickelt sich ein Machtkampf, den eine Lehrkraft, die ernst genommen werden und pädagogisch wirksam bleiben will, nicht so ohne weiteres aufgeben sollte. Auch der Sinn der Benotung und die pädagogische Wirksamkeit von Hausaufgaben können hinterfragt werden. Aus Faulheit oder Desinteresse nachzugeben ist der falsche Weg. Wir Erwachsenen müssen Kinder ernst nehmen, auch wenn sie die Konfrontation suchen. Im Fall der Lehrerin sehe ich eine weitere Gefahr: Ihre Nachgiebigkeit könnte die Klasse in zwei Gruppen spalten. Schülerinnen und Schüler mit besseren Leistungen werden oft bevorzugt und deshalb als Streber angefeindet, schwächere abgehängt. Hoffentlich kommt Roman gut mit dieser Situation zurecht. Anlass für eine nachhaltige Diskussion innerhalb Ihrer Familie ist sie allemal.“

!Prof. Zierer: Der geschilderte Fall ist aus pädagogischer Sicht in zweierlei Hinsicht interessant: Braucht es Hausaufgaben, gerade im Zeitalter von ChatGPT? Und wer trägt die Verantwortung - die Schule oder die Eltern? Über Hausaufgaben wird schon lange diskutiert, weil sie alle belasten: Kinder sitzen viele Stunden daran; Eltern arbeiten sich ab, um sicherzustellen, dass sie gemacht sind; Lehrkräfte verzweifeln bei der Kontrolle, wer die Hausaufgaben selbst erledigt oder bloß abgeschrieben hat. Leicht wäre es, gar keine Hausaufgaben mehr aufzutragen. Aber der leichteste Weg ist oft nicht der beste. Hausaufgaben haben eine wertvolle pädagogische Funktion: Erstens sind sie eine wichtige Übungsphase, um das in der Schule Gelernte langfristig zu sichern. Zweitens sind sie eine Rückmeldequelle für Lehrkräfte und Eltern, um zu sehen, was die Kinder bereits können und was noch nicht. Drittens haben sie eine erzieherische Wirkung. Damit diese Effekte eintreten, müssen alle Beteiligten ihre Rolle erfüllen: Lehrkräfte müssen Hausaufgaben gründlich vor- und nachbereiten, Lernende müssen sich disziplinieren und Eltern müssen sicherstellen, dass diese gemacht werden - nicht unbedingt korrekt, aber doch vollständig. Erfolgreiche Bildung ist das Ergebnis einer gelungenen Erziehungskoalition zwischen Elternhaus und Schule. Absprachen, auch über Regeln und gegebenenfalls Sanktionen bei Nichteinhaltung, sind wichtig . „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange“, so nennt Immanuel Kant eine der pädagogischen Schlüsselfragen, die schon immer und auch heute noch aktuell ist und einer Beantwortung bedarf.