? Eine engagierte Mittelschullehrerin und Mutter zweier fast erwachsener Söhne schüttet in der Sprechstunde ihr Herz aus: "Herr Doktor, wenn ich noch einmal die Wahl hätte, ich würde nicht wieder auf Lehramt studieren! Wir sind zu wenige, die Kollegen sind frustriert, die Schüler kennen keine Regeln und passen nicht auf. Ich weiß nicht, wie ich das weiter durchstehen kann und ob ich das will."

!Prof. Dorsch: Es stellt sich die Frage, warum eine Lehrerin, die als Mutter ihre erzieherische Kompetenz deutlich unter Beweis gestellt hat, zu solchen Schlussfolgerungen kommt. Ihre beiden Buben sind ihr ja gut geraten! Tatsächlich hört man ähnliche Klagen vielerorts: das Studium habe junge Lehrkräfte nicht richtig vorbereitet, der Umgang mit undisziplinierten Kindern sei schockierend, viele hörten nach dem Referendariat wieder auf. Altgediente Lehrkräfte seien oft nahe am Burnout. Viele würden resignieren, da sie oft hilflos rücksichtslosen Eltern gegenüberstünden, die notfalls auch mit der Hilfe von Rechtsanwälten ihre Kinder durchboxen würden. Bei steigender Schülerzahl sinkt bundesweit die Anzahl der Lehrkräfte. Den Numerus clausus für werdende Grundschullehrkräfte abzuschaffen, mehr Quereinsteiger anzuwerben sowie eine bessere Bezahlung dürften das Problem nicht lösen, denn die deutschen gehören zu den bestbezahlten Lehrkräften Europas! Das Problem liegt tiefer.

Es wird Zeit, sich auf Grundsätzliches zu konzentrieren: Was will Schule, was kann Schule, was muss Schule: Wie im Grundgesetz verankert, gehört neben der Wissensvermittlung auch die allgemeine Charakterbildung zu den Aufgaben der Schule. Der Rückzug der Lehrerschaft aus dieser Verantwortung ist eine Katastrophe. Schulbildung gelingt aber nur, wenn Elternhaus und Lehrkräfte konstruktiv zusammenarbeiten. Die Basis für eine erfolgreiche Schulzeit wird vor allem im Elternhaus geschaffen. In den ersten zwei bis drei Lebensjahren stellt eine extensive Fremdbetreuung in Kindertagesstätten ein Risiko dar. Kinder, die die Schule besuchen, müssen schulreif sein, die Schule ist kein Reparaturbetrieb für Versäumtes.

!Prof. Zierer: Die Herausforderungen im Schulsystem sind immens. Lernrückstände, die durch Corona besonders deutlich geworden sind, verbunden mit einem Rückgang der körperlichen Verfassung und einer Zunahme an psychosozialen Auffälligkeiten. Und dann noch der um sich greifende Lehrermangel. Kein Wunder, dass sich vielerorts Frustration breit macht. Bildung ist immer die Aufgabe einer Erziehungskoalition. Schule und Elternhaus sind mehr denn je auf eine gelungene Zusammenarbeit angewiesen. Weder kann die Schule das kompensieren, was zu Hause nicht passiert ist, noch kann das Elternhaus einspringen, wenn die Schule ihre Aufgaben nicht erfüllt.

Gerade wenn es um eine Werteerziehung geht - Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Hilfsbereitschaft und dergleichen - ist diese Erziehungskoalition wichtig. Werteerziehung erfordert Kommunikation und Kooperation zwischen allen Beteiligten. Nichts ist für Kinder und Jugendliche schwieriger, als wenn in der Schule etwas ganz anders gilt als zu Hause, etwa bei Smartphone-Zeiten. Wenn in der Schulmensa ein Handyverbot beim Essen gilt, dann sollte das auch daheim gelten - und umgekehrt. Zweitens muss Werteerziehung den Entwicklungsstand von Kindern beachten. Erwachsene neigen dazu, Kinder mit ihren Vorstellungen zu überfrachten, was nicht selten eine Überforderung darstellt. Denn oft kann ein Kind aufgrund seiner kognitiven Entwicklung nur in einem bestimmten Wertekontext Entscheidungen fällen. Das bedeutet konkret, dass es bei Wertekonflikten immer besser ist, zu sprechen als zu sanktionieren. Denn das Verstehen führt zum Verständnis. Eltern also auf ihre wichtige Rolle aufmerksam zu machen, ist ebenso hilfreich, wie sie zu ermutigen, das Gespräch mit der Schule zu suchen.