Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wird bei Jungen rund viermal häufiger als bei Mädchen diagnostiziert. Ob die neurobiologische Erkrankung aber tatsächlich deutlich seltener Mädchen betrifft, ist fraglich. Mädchen und (junge) Frauen mit ADHS könnten manche Defizite besser verbergen, sodass die Diagnose erschwert werde, gaben die Expertinnen und Experten bei einem Medice-Symposium während der BKJPP-Jahrestagung 2022 zu bedenken. Gehäuft könnten auch psychiatrische Komorbiditäten eine ADHS bei jungen Frauen verschleiern.

Mädchen mit ADHS seien etwa oft sehr diszipliniert, sodass sie erst später auffällig würden, berichtete Dr. Andrea Boreatti, niedergelassene Psychiaterin aus Lohr am Main. Typische Zeichen seien bei vielen Betroffenen Ungeduld und abgekaute Fingernägel. Zum Teil fielen Frauen mit ADHS erst auf, wenn Beruf und Familie vereint werden müssten und die Belastung zu groß werde. "Die protektiven Mechanismen fallen dann auseinander", erklärte Boreatti.

Zu beachten ist nach ihren Angaben bei Mädchen und weiblichen Teenagern mit ADHS auch ein möglicherweise geringerer Schweregrad der hyperaktiv-impulsiven Symptome als bei Jungen. Hinweise gebe es auch für einen Einfluss weiblicher Geschlechtshormone auf die Symptomatik. Mädchen mit ADHS kämen früher in die Pubertät und Frauen mit ADHS berichteten über eine zyklusbedingte Zunahme der ADHS-Symptomatik. Erhöht sei auch das Risiko für intensivere prämenstruelle Beschwerden sowie postpartale Depressionen.

"Junge Frauen mit ADHS haben ein deutlich erhöhtes Risiko für weitere psychiatrische Erkrankungen", betonte Boreatti. Gehäuft betroffen im Vergleich zu Männern mit ADHS seien sie zum Beispiel von Stimmungs-, Angst- und Essstörungen sowie emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen, die sich auch zu einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) entwickeln könnten. Hier gebe es einige symptomatische Überlappungen mit ADHS wie innere Unruhe, Reizbarkeit, Stressintoleranz und ein negatives Selbstbild, sodass gegebenenfalls eine sorgfältige Differenzialdiagnose notwendig sei.

Für die ADHS-Therapie sei das Vorliegen einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung oder einer BPS nicht relevant, betonte PD Dr. Robert Waltereit, Ärztlicher Direktor des Klinikums Marsberg. Goldstandard sei das Psychostimulans Methylphenidat, das für eine individuelle Behandlung in unterschiedlichen Galeniken zur Verfügung steht (z. B. Medikinet®, Medikinet® retard, Kinecteen®). Begleitet werden sollte die medikamentöse Behandlung möglichst von einer Psychotherapie.

Mittagssymposium "Typisch Mädchen? Besonderheiten von Diagnose und Therapie von ADHS bei Mädchen/ jungen Frauen", Jahrestagung des Berufsverbandes für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland (BKJPP), 18.11.2022, Kassel; Veranstalter: Medice