? "Mein Kleiner hat solche Angst vor dem Mathematikunterricht! Ich habe wirklich viel mit ihm geübt, alles umsonst. Es ist wie bei mir damals: Mein Papa hat mit mir auch das Einmaleins rauf und runter trainiert, ich war richtig gut. Aber dann, als es um das große Einmaleins oder Bruchrechnen ging, war es vorbei. Haben Sie eine Idee? Die Lehrerin sagt, außer zu üben kann man nichts tun!"

!Prof. Dorsch: Anscheinend kann eine Schwäche in Mathematik vererbt werden, oder? Zweifel sind angebracht. Die Entwicklung von Begabungen ist nur teilweise genetisch festgelegt. Hochbegabte Kinder können versagen, minderbegabte durch Förderung viel erreichen. Es kommt darauf an, wie wir lernen. Oft sind falsche Erziehungsmethoden, die über Generationen unkritisch weitergegeben werden, dafür verantwortlich, dass Begabungen brachliegen.

Das kleine Einmaleins auswendig zu lernen, hat beispielsweise nichts mit mathematischem Denken zu tun. Das ist Dressur. Es könnte vielmehr sein, dass viele schlaue Kinder, die sich mit Mathematik schwertun, einfach nicht in der Lage sind, ihr mathematisches Denken in passenden Symbolen und Schriftzeichen auszudrücken. Mathematisches Denken mit der Beherrschung der mathematischen Symbolsprache gleichzusetzen, ist möglicherweise der wichtigste Fehler, der zur weitverbreiteten Angst vor Mathematik führt.

Auch Angehörige von Naturvölkern und Kinder, die nie eine Schule besuchen konnten, verfügen über ein Kernwissen, das sie dazu befähigt, einfache mathematische und physikalische Aufgaben zu lösen. Schon die kleinsten Kinder erleben im Alltag viele Situationen, hinter denen ein mathematisches oder physikalisches Rätsel steckt: Wie teilt man Nüsse gerecht auf, wie schnell rollt ein Apfel vom schrägen Küchenbrett, wann kippt ein Stuhl? Diese Fragen werden intuitiv gelöst, ohne Rechner, Papier und Bleistift. Es macht viel Freude, die eigenen Kinder auf sie aufmerksam zu machen und mit ihnen Lösungen zu besprechen und ist gleichzeitig ein wirksames Mittel gegen die Angst vor Mathematik.

Diese Angst hat mit der Dyskalkulie zunächst nichts zu tun. Von ihr spricht man, wenn die Rechenleistung um mehr als zwei Standardabweichungen von der Intelligenzleistung abweicht. In unserem Fall wurde sie durch den Kinderpsychiater ausgeschlossen.

!Prof. Zierer: Drei pädagogisch wichtige Fragestellungen tun sich hier auf: 1.) das mögliche Problem der Schulangst, 2.) eine abzuklärende Dyskalkulie und 3.) die Frage nach dem richtigen Üben. Die beiden ersten erfordern ein behutsames Vorgehen nach dem Prinzip "Prävention vor Intervention", im Zweifel eine Konsultation des Schulpsychologen. Das Problem des richtigen Übens ist bekannt, die Aussagen der Mutter deuten darauf hin, dass hier Fehler passieren.

In der empirischen Bildungsforschung gibt es eine Vielzahl an Studien, ausgewertet etwa in der Hattie-Studie [Zierer K. Hattie für gestresste Lehrer. Baltmannsweiler. Schneider Verlag, Hohengehren. 2018]. Dort wird zwischen unbewusstem und bewusstem Üben unterschieden: Unbewusstes Üben ist monoton, langweilig und geballt. Die Aufgaben sind immer gleich aufgebaut, bei Einmaleinsaufgaben steht der Platzhalter etwa immer am Ende. Bewusstes Üben hingegen ist vielfältig, herausfordernd und regelmäßig. Aufgaben werden variiert, der Platzhalter steht bei Rechenaufgaben etwa entweder mal vorne, in der Mitte oder hinten. Bewusstes Üben erzielt also nicht nur Wissen und Automatisierung, sondern auch Verstehen. Leider sind die Prinzipien erfolgreichen Übens nicht allen Eltern geläufig und auch so mancher Lehrperson unbekannt.

Es lohnt sich also, nach der Art des Übens zu fragen, und Anregungen zu geben, zum Beispiel Rechenspiele in den Familienalltag zu integrieren. Auch wenn das Kind zusätzlich an Schulangst oder Dyskalkulie leidet, richtiges Üben wird ihm helfen.

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Prof. Dr. med. Walter Dorsch

Kinder- und Jugendarzt München

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Prof. Dr. phil. Klaus Zierer

Ordinarius für Schulpädagogik Universität Augsburg