In der Vortragsreihe "My Worst Case" berichtet ein Kinderarzt davon, wie es bei einem seiner Patienten zu sexuellem Missbrauch kam, und welche Lehren daraus gezogen werden können.

Professor Volker Mall, Lehrstuhl für Sozialpädiatrie der Technischen Universität München, stellte auf dem DGKJ-Kongress den Fall eines knapp fünfjährigen Jungen vor. Er wurde Mall ambulant zur mehrdimensionalen Bereichsdiagnostik Sozialpädiatrie (MBS) vorgestellt. Der Junge war einige Monate zuvor mit seinem Bruder in einem Heim untergebracht worden. Mall diagnostizierte eine Anpassungsstörung mit oppositionellem, trotzigem und unkonzentriertem Verhalten. Der Junge lebte sich jedoch gut in der Wohngruppe ein, die Verhaltensauffälligkeiten besserten sich. Treffen mit der Mutter fanden alle zwei Wochen statt.

Jedoch erfuhr Mall, dass die Mutter einen neuen Lebenspartner habe. In seinem Arztbrief und im Gespräch mit dem Pfleger der Jungen, aber auch gegenüber der Heimleitung und dem Jugendamt wies Mall auf eine Risikokonstellation für eine Kindeswohlgefährdung durch die Besuche bei der Mutter und ihrem Partner hin. Bei der Mutter lagen Hinweise auf schwerwiegende Deprivationserfahrungen in der frühen Kindheit vor, sie hatte auch schon zahlreiche Partnerwechsel hinter sich. Mall empfahl, die Besuche zumindest punktuell vom Jugendamt begleitend sattfinden zu lassen.

Wegen des neuen Partners der Mutter alarmiert

Woher rührten Malls Bedenken? Vielleicht würde die Frau durch die neue Partnerschaft sogar wieder Stabilität in ihrem Leben bekommen? Der Grund für die großen Vorbehalte liegt in den Ergebnissen einer Studie von Leslie Seltzer et al. aus dem Jahr 2014. Darin wurden Kinder mit bestätigter körperlicher Misshandlung dem "Trier Social Stress Test for Childen" ausgesetzt und dabei Oxytocin sowie Cortisol gemessen. Unter Stress kam es in der Gruppe der in der frühen Kindheit misshandelten Mädchen zu einem Anstieg des Oxytocins im Urin nach 30 Minuten - eine paradoxe Reaktion. Bei den misshandelten Jungen und den Kontrollgruppen, die keine Gewalt erfahren hatten, blieben die Oxytocin-Spiegel bei nahezu null. Genderspezifische Reaktionen auf Kindesmisshandlung sind bekannt: Misshandelte Mädchen treten früher in die Pubertät ein, sie werden häufiger schwanger, außerdem wechseln sie häufiger den Partner. Aufgrund der paradoxen Reaktion des Oxytocin-Spiegels, ausgelöst durch Gefahr oder einen gewalttätigen Partner, wird dessen Nähe gesucht.

"Es geht nicht um eine Stigmatisierung, sondern darum, Risikokonstellationen zu erkennen und zu kommunizieren, mit der Hoffnung, Missbrauch zu verhindern", betonte Mall. Häufige Partnerwechsel mit Gewaltbereitschaft in der Anamnese der Mütter seien aus der Klinik gut bekannt. Wenn in der Vergangenheit nicht nur ein Partner gewalttätig war, sondern gleich mehrere Lebensgefährten die Mutter oder das Kind selbst misshandelt hätten, müsste das die betreuenden Personen in Alarmbereitschaft versetzen.

Fatalerweise hatten die Betreuer diese Vorzeichen und Warnung von Mall im vorgestellten Fall nicht ernst genug genommen. Bei einem der Besuche bei der Mutter kam es zu wiederholten sexuellen Übergriffen auf die beiden Brüder durch den Lebensgefährten. Die Anpassungsstörungen des Jungen verschlechterten sich daraufhin rapide: Er zeigte ein extrem auffälliges Verhalten, eine funktionelle Enuresis und Enkopresis kamen hinzu. Sein siebenjähriger Bruder hatte einen Suizidversuch unternommen.

Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Düsseldorf, 8./9. September 2022