? "Herr Doktor, kürzlich hatte ich einen fürchterlichen Streit mit meiner Schwiegertochter. Ich habe meinem dreijährigen Enkel die schönen alten Märchen erzählt, zum Beispiel Rotkäppchen. Meine Schwiegertochter fragte mich entsetzt, wie ich nur einem so kleinen Kind so altes, noch dazu so grausames Zeug erzählen könne. Was meinen Sie?"

!Dorsch: Gut, dass Sie hier der modernen "cancel culture" nicht folgen, alles zu streichen, was man nicht versteht oder womit man sich nicht auseinandersetzen will. Das macht uns alle nur dümmer. In den letzten 30.000 Jahren unserer intellektuellen Entwicklung haben miteinander reden und Geschichten erzählen uns zu unserer Intelligenz verholfen. Das angeblich älteste Märchen der Welt, "Der Schmidt (!) und der Teufel", soll bereits vor 6.000 Jahren in einer indogermanischen Sprache erzählt worden sein. Großartig und inspirierend zeigt es, wie man dem Teufel nicht nur einmal ein Schnippchen schlagen kann. Der Symbolgehalt der Handlung ist auch heute noch für jeden zugänglich, der dem magischen Denken verhaftet ist - auch kleinen Kindern.

Dieses magische Denken und Fühlen zu erreichen, ist das Geheimnis guter Märchen. Märchen belehren nicht. Sie haben immer neben der kognitiven auch eine emotionale Dimension. Sie laden die Kinder dazu ein, sich mit einer fremden Geschichte und ihren Protagonisten einzulassen, Verständnis für sie zu entwickeln, sich mit deren Schicksal auseinanderzusetzen und das anzunehmen, was ihnen bewusst oder unbewusst hilfreich erscheint. Märchen machen Kindern Mut, weil sie Wege aufzeigen, auch schwerste Prüfungen zu bestehen. Da dürfen schon einmal Teufel, Drachen, Riesen und böse Stiefmütter auftreten - vorausgesetzt, das Gute siegt zum Schluss. Der Wunsch wohlmeinender Gutmenschen, alles Gefährliche oder Verstörende aus Märchen zu tilgen, beraubt sie ihrer wesentlichen Kraft.

Bruno Bettelheim (1903-1990), der berühmte Psychoanalytiker, hat sich in seinem Buch "Kinder brauchen Märchen" (1976) vor dem Hintergrund von Massengesellschaften, Faschismus und Totalitarismus intensiv mit Märchen befasst. Unser wichtigstes Ziel sei, Autonomie zu erreichen. Voraussetzung dafür sei die Überwindung von Angst. Märchen sind, so bekräftigt er, wichtige Vorbilder. In diesem Sinne sind Märchen aber fast nur dann wirksam, wenn sie von einem Familienmitglied vorgelesen und besprochen werden. Wer einem Kind ein Märchen erzählt, übt auf der kognitiven und auf der emotionalen Ebene eine doppelte Funktion aus.

Kinder brauchen den Schutz der Erwachsenen, um sich mit Märchen auseinanderzusetzen. YouTube und digitale Medien können eine solche emotionale Zuwendung nicht oder nur kaum ersetzen. Märchenverfilmungen bleiben oft in flacher Belehrung oder oberflächlichem Kitsch stecken, sie sind wertlos.

!Zierer: Kinder lieben Geschichten. Mit ihnen werden nicht nur die Inhalte weitergegeben, sondern auch Werte und Normen. Das gilt besonders auch für Märchen, die sich nicht zuletzt dadurch auszeichnen, dass sie nicht an einen bestimmten Ort und an eine bestimmte Zeit geknüpft sind, sondern in einer nicht wirklichen Welt spielen, in der aber typische Probleme des Menschseins anklingen. Die Angst davor, dass Kinder diese Unterscheidung nicht treffen können, ist unbegründet, was nicht heißen soll, dass eine Geschichte nicht emotional aufrüttelt. Botschaften, die nicht nur kognitiv anregen, sondern auch emotional berühren, wirken intensiver und nachhaltiger. Das vermögen Märchen, die sich über Jahrhunderte hinweg tradiert haben, besonders gut.

Märchen sind nach wie vor ein zentrales Element der Erziehung, ein Bindeglied zwischen Jung und Alt, was heute wichtiger ist denn je: In einer Zeit, in der digitale Medien die Kinderzimmer nahezu vollständig erobert haben, sind generationenübergreifende Ausflüge in das Land der Geschichten und Märchen nicht nur willkommen, sondern auch notwendig. Ermutigen Sie also Eltern immer und immer wieder, Geschichten zu erzählen, Märchen vorzulesen und darüber zu sprechen.