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Jeden Tag kommen in Deutschland Menschen an, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind - unter ihnen auch viele Kinder und Jugendliche. Mit welchen Herausforderungen Praxen konfrontiert sind und wie Pädiater Hürden durch Bürokratie, Sprachbarrieren und abweichende Impfschemata meistern können, erklärt Dr. Martin Schwenger, Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde in Koblenz.
Wie viele geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine treffen Sie gegenwärtig in Ihrer Praxis an?
Dr. Martin Schwenger: Laut UNICEF lebten vor dem russischen Überfall auf die Ukraine 7,5 Millionen Kinder in der Ukraine, davon sind nun circa 2,5 Millionen auf der Flucht. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ging Anfang Mai 2022 von circa 240.000 ukrainischen Flüchtlingskindern in Deutschland aus, davon leben knapp 500 in Koblenz. Unsere Praxis betreut täglich mehrere aus der Ukraine geflüchtete Kinder und Jugendliche. Ihre Zahl in unserer Praxis nimmt zurzeit stetig zu.
Gibt es Hürden in der Kommunikation? Wie lösen Sie diese?
Schwenger: In meiner Wahrnehmung gestaltet sich die Sprachbarriere mit Flüchtlingen aus der Ukraine meist weniger problematisch als zum Beispiel mit arabischen oder afrikanischen Flüchtlingen. Häufig kommen die Familien in Begleitung von Familienangehörigen oder Freunden, die beim Übersetzen helfen, nicht selten wird zumindest ein wenig Englisch gesprochen und im Notfall kann der Google-Übersetzer im Smartphone bei der Verständigung helfen.
Mit welchen Krankheiten werden Sie überwiegend konfrontiert? Gibt es darunter auch Erkrankungen, die Sie unter Ihren deutschen Patienten nicht beobachten?
Schwenger: Die Kinder und Jugendlichen kommen mit akuten Infekten, brauchen aufgrund von chronischen Krankheiten Medikamente oder Therapieplanung, Atteste - zum Beispiel für den Kindergartenbesuch - oder Impfungen. Leider sind etliche der geflüchteten Kinder und Jugendlichen durch die Trennung von Familienangehörigen, Krieg und Flucht traumatisiert. Zusätzlich fehlt vielen durch den Wegfall der Alltagsstrukturen und geregelten Abläufe Halt und Sicherheit, und brauchen deswegen psychologische oder psychiatrische Anbindung.
Viele Kinder, die zu uns kommen, besuchen schon Kindergarten oder Schule und kommen mit den gleichen Infekten wie die einheimischen Kinder. Natürlich betreuen wir auch geflohene Kinder und Jugendliche mit chronischen Krankheiten, wie AIDS, Asthma bronchiale, Autismus, habitueller Obstipation, zerebralen Krampfanfällen oder Hypopituitarismus. Die Patienten mit chronischen Krankheiten wurden in der Ukraine in der Regel nach aktuellem Stand der Wissenschaft therapiert, mit Medikamenten, die uns auch vertraut sind.
Gibt es Unterschiede in der Versorgung, etwa im Hinblick auf Impfungen? Führen diese in Deutschland zu Problemen im Kindergarten oder in der Schule?
Schwenger: Das ukrainische Impfprogramm zur Grundimmunisierung unterscheidet sich in einigen Punkten vom deutschen Impfprogramm. Es fehlen die Impfungen gegen Rotaviren, Pneumokokken, Meningokokken Typ C, Varizellen und humane Papillomaviren - wobei wir auch Patienten in unserer Praxis sehen, die diese Impfungen (teils auch gegen Meningokokken Typ ABCWY) durch Eigeninitiative der Eltern in der Ukraine erhalten haben. Die erste Impfdosis gegen Mumps-Masern-Röteln (MMR) erfolgt in der Ukraine erst mit zwölf Monaten und die zweite MMR-Impfung erst mit sechs Jahren. Aufgrund der Masernimpfpflicht brauchen somit praktisch alle Kinder aus der Ukraine, die in den Kindergarten gehen wollen, und viele Kinder, die in das deutsche Schulsystem integriert werden sollen, die zweite MMR-Impfung.
Die Impfungen gegen Diphterie, Keuchhusten, Tetanus, Haemophilus influenza Typ B, Polio und Hepatitis B erfolgen in der Ukraine ähnlich wie in Deutschland - mit der Ausnahme, dass die erste Hepatitis-B-Impfung bereits am ersten Lebenstag gegeben wird. Zusätzlich erfolgt in den ersten Lebenstagen noch eine Impfung gegen Tuberkulose. Eine Übersicht über das ukrainische Impfprogramm findet man in englischer Sprache auf der offiziellen Homepage der ukrainischen Regierung unter https://en.moz.gov.ua/vaccinations.
Welche Impfungen müssen bei den Geflüchteten nachgeholt werden? Wie funktioniert hier die Abrechnung?
Schwenger: Geflüchtete aus der Ukraine haben in Deutschland einen Anspruch auf Schutzimpfungen, entsprechend den §§ 47, 52 Absatz 1, Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch. Das heißt, der betreuende Kinderarzt darf bei allen in Deutschland gemeldeten Kindern aus der Ukraine, die fehlenden, von der STIKO empfohlenen Impfungen nachholen. Dies gilt bei entsprechender Indikation oder bei entsprechendem Alter auch für die COVID-19-Impfung.
Praktisch bedeutet dies, dass wir die Impfungen je nach Stadt oder Landkreis direkt mit der gesetzlichen Krankenkasse über die elektronische Gesundheitskarte abrechnen und den Impfstoff über den Sprechstundenbedarf bestellen können. Falls das Kind keine elektronische Gesundheitskarte besitzt, ist vor der Impfung ein Krankenbehandlungsschein über das zuständige Sozialamt zu organisieren, um die Impfung dann direkt mit dem Sozialamt abzurechnen. In diesem Fall rechnen wir den Impfstoff auch nicht über den Sprechstundenbedarf ab.
Daneben ist auch der Zugang zu den COVID-19-Impfstellen möglich, zum Teil gibt es auch in größeren Sammelunterkünften Impfmöglichkeiten.
Auf der Homepage des Robert-Koch-Instituts (https://rki.de) und im epidemiologischen Bulletin Nr. 14/2022 findet man weitere Informationen zu Impfungen von geflüchteten Personen, inklusive einer Empfehlung zur Priorisierung der Impfungen. Informationen zum Impfen in ukrainischer Sprache findet man unter www.infektionsschutz.de. In Rheinland-Pfalz gibt es auf der offiziellen Homepage des Landes einen eigenen mehrsprachigen Bereich für Flüchtlinge aus der Ukraine, wo sehr viele organisatorische Abläufe, wie das Impfen, erklärt werden.
Wie gehen Sie damit um, wenn die Eltern keinen Impfnachweis für ihre Kinder haben, aber darauf beharren, dass alle Impfungen bereits erfolgt sind?
Schwenger: Leider haben die geflohenen Kinder oder ihre Eltern in der Regel keine Gesundheitsdokumente wie den Impfpass auf ihrer Flucht mitgenommen. Sind keine Impfdokumente vorhanden, empfiehlt das Robert-Koch-Institut aus pragmatischen Gründen, alle nicht dokumentierten Impfungen durchzuführen. Im ungünstigsten Fall bedeutet dies, dass nochmals die komplette Impfserie erfolgen muss - mit unangenehmen Folgen für das zu impfende Kind, vor allem durch die wiederholten Arztbesuche und den Stress beim Impfen. Können die Eltern jedoch glaubhaft und mit detaillierten Angaben versichern, dass bestimmte Impfungen bereits in der Ukraine durchgeführt wurden oder die Kinder schon an bestimmten impfpräventablen Krankheiten erkrankt waren, kann der Kinderarzt dies berücksichtigen. In diesem Fall würden wir die Impfungen gegebenenfalls auch in einen internationalen Impfpass eintragen.
Wie ist die Impfbereitschaft unter den Geflüchteten aus der Ukraine?
Schwenger: Wir erleben bei den Eltern bisher eher eine hohe Impfbereitschaft. Viele Eltern wünschen sich für ihre Kinder eine möglichst rasche Integration in den Kindergarten oder in die Schule und sind deswegen auch motiviert, die fehlende zweite MMR-Impfung rasch durchzuführen. Laut Angaben von UNICEF war die Impfbereitschaft in der Ukraine lange Zeit auf einem niedrigen Niveau. Dies konnte aber durch eine Informationskampagne deutlich gebessert werden. Für die zweite Masernimpfung gibt UNICEF für das Jahr 2017 eine Impfquote von knapp 91 % an, im selben Jahr lag die Masernimpfquote in Rheinland-Pfalz nach Angaben der Landesärztekammer bei knapp 94 %. Eine generelle Impfskepsis unter ukrainischen Flüchtlingen, von der häufig in den Medien berichtet wird, können wir in unserer Praxis momentan nicht nachvollziehen.
Wie steht es mit den COVID-19-Impfungen?
Schwenger: Die Bereitschaft zur COVID-19-Impfung in der Ukraine ist nach Angaben des Robert-Koch-Instituts deutlich geringer als in Westeuropa. Vor dem russischen Überfall auf die Ukraine hatten nur knapp 35 % der Bevölkerung zwei COVID-19-Impfungen erhalten und nur 2 % die Booster-Impfung. Im selben Zeitraum hatten 76 % der deutschen Bevölkerung zwei COVID-Impfungen, 59 % waren geboostert. Viele ukrainische Flüchtlinge sind mit den in Deutschland nicht zugelassenen COVID-19-Impfstoffen Sputnik V und Sinovac geimpft, so dass das Robert-Koch-Institut empfiehlt, die Impfserie je nach Impfstatus mit einem in Deutschland zugelassenen COVID-19-Impfstoff abzuschließen oder zu boostern.
Welche Regelungen oder welches Vorgehen würden Sie sich von der Regierung oder dem Gesundheitsministerium wünschen?
Schwenger: Für viele geflohene Menschen werden Impfungen, sei es gegen COVID-19 oder andere Infektionskrankheiten, direkt nach der Flucht erst einmal nicht die höchste Priorität besitzen. Vielmehr gilt es, zunächst in einer neuen Umgebung anzukommen, das Erlebte zu verarbeiten und das Leben in einem neuen Umfeld zu organisieren. Mittelfristig braucht es Konzepte, die gezielt die Gruppe der aus der Ukraine geflohenen Menschen ansprechen, um eine gute Impfquote zu erreichen.
Herr Dr. Schwenger, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Dr. Lamia Özgör
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Özgör, L. Pädiatrische Versorgung von Geflüchteten aus der Ukraine. Pädiatrie 34, 6–9 (2022). https://doi.org/10.1007/s15014-022-4058-5
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