Die Erforschung seltener angeborener Erkrankungen nimmt zunehmend Fahrt auf. Professor Annette Grüters-Kieslich aus Berlin erläuterte beim Pädiatrie-Update, was das für das Neugeborenenscreening und den Praxisalltag niedergelassener Pädiater bedeutet und warum davon letztlich die ganze Bevölkerung profitieren könnte.

Wie rasant aktuell das Wissen rund um das Thema seltene angeborene Erkrankungen (SE) wächst, brachte die Endokrinologin und ehemalige Leiterin des Charité-Centrums 17 - Centrum für Frauen-, Kinder- und Jugendmedizin in Berlin, Professorin Annette Grüters-Kieslich, beim diesjährigen "Pädiatrie Update"-Seminar am Beispiel monogener Erkrankungen auf den Punkt. Waren bei OMIM (Online Mendelian Inheritance in Man) Gene Map Ende März 2022 noch 6.051 monogene Erkrankungen gelistet, waren es einen Monat später schon 40 Erkrankungen mehr.

Populationsbezogenes Screening in der Diskussion

Aus Sicht Grüters-Kieslichs wirft diese Entwicklung Fragen für das künftige populationsbezogene Neugeborenenscreening auf. In Deutschland erfolgt das Screening bislang primär über die Bestimmung von Biomarkern, eine genetische Diagnostik wird meist nur ergänzend als zweiter Test ("second tier") genutzt, etwa bei zystischer Fibrose. "Das seit 2021 implementierte Screening zur Früherkennung der 5q-assoziierten spinalen Muskelatrophie ist die Ausnahme."

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Immer mehr Genvarianten werden entdeckt, die Erkrankungen zugrundeliegen. Damit könnten künftig genetische statt Biomarkertests mehr an Bedeutung gewinnen.

Künftig werden primäre genetische Tests (First-tier-Tests) häufiger im populationsbezogenen Screening eingesetzt werden, davon ist Grüters-Kieslich überzeugt. Schließlich gebe es für viele Erkrankungen keine ausreichend spezifischen und sensitiven Biomarker. Mit dem wachsenden Wissen über pathogenetisch bedeutsame Genvarianten und der Entwicklung potenzieller Therapieoptionen, die häufig mutationsspezifisch sind, werden genetische First-tier-Methoden an Bedeutung gewinnen. Eine Entwicklung, die viele grundsätzliche Fragen sowie solche zu ethischen Aspekten aufwirft, die unter anderem das Erkennen von Varianten unbekannter Signifikanz oder eines Carrierstatus sowie das Recht auf Nichtwissen betreffen.

Niedergelassene als wichtigste Ansprechpartner für Eltern

Aus persönlicher Erfahrung weiß Grüters-Kieslich, dass für Eltern betroffener Kinder die niedergelassenen Pädiater die wichtigsten Ansprechpartner sind. "Sie sind diejenigen, auf die die Eltern sich verlassen, und sie können mithelfen, das Vertrauen der Eltern in die Therapiemethoden zu stärken." Daher ist es zweifelsohne wichtig zu wissen, an welche Experten die Familien vermittelt werden können. Die aktuellen Möglichkeiten der spezifischen Therapie und ihre Effekte bei der im Screening erfassten Erkrankungen zu kennen, ist aus Grüters-Kieslichs Sicht mindestens ebenso entscheidend. Und auch wenn die Endokrinologin auf die Unterstützung der niedergelassenen Kinderärzte hofft, muss jeder selbst "durch Wissen und kritische Selbstreflexion eine eigene Haltung zu den Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie sowie ihren ethischen Implikationen entwickeln."

Was seltene Erkrankungen mit Volkskrankheiten zu tun haben

Als Präzedenzfall der "individualisierten und personalisierten Medizin" bezeichnete Grüters-Kieslich die seltenen angeborenen Erkrankungen und hob damit den Nutzen ihrer Erforschung für die Allgemeinheit hervor. Zum einen lassen sich häufige Erkrankungen aufgrund der genetischen und molekularen Grundlagen in viele Unterformen seltener Erkrankungen einteilen, zum anderen seien seltene Erkrankungen wegweisend für die Krankheitsmechanismen häufiger Erkrankungen.

Sie können sogar bedeutsam für die Therapie von Volkskrankheiten werden, wie Grüters-Kieslich anhand dreier Beispiele erklärte: Die Entwicklung der Statintherapie etwa habe ihren Ausgang von einer Familie mit einer LDL-Rezeptormutation und familiärer Hypercholesterinämie genommen; die der Sclerostin-Antikörper-Therapie bei Osteoporose von einer Familie mit Van-Buchem-Syndrom und Mutationen im SOST-Gen und die Therapie der Knochenheilungsstörungen von Patienten mit ACBVR1-Mutationen und Fibrodysplasia ossificans progressiva (FOP).

"Pädiatrie Update"-Seminar, 6./7. Mai 2022, Köln