Mit zwei, auch weit über Hamburg hinaus wegweisenden Modellprojekten gehen die gesetzlichen Krankenkassen in der Hansestadt in die Offensive: Es geht darum, die Versorgung von Kindern und Jugendlichen, die in "Problemkiezen" mit hohen sozialen oder familiären Belastungsfaktoren leben, zu verbessern.

In den drei Bezirken Bergedorf, Mitte und Harburg sind bei Kindern ab vier Jahren chronische Krankheiten und psychische Auffälligkeiten häufiger zu erwarten als in anderen Stadtteilen. Zugleich liegen die ärztlichen Gesprächsangebote unter dem Hamburger Durchschnitt. Die COVID-19-Pandemie hat diese Situation noch verschärft. Es besteht also dringenderer Handlungsbedarf. Doch wie können die Krankenkassen und die Kassenärztliche Vereinigung (KV) dieser Herausforderung gerecht werden? Ganz einfach, mit einer höheren Vergütung von pädiatrischen Gesprächs- und Beratungsleistungen. Auf ein entsprechendes Honorarpaket haben sich die Kassen und die KV verständigt. Dabei geht es immerhin um eine Honorarsumme in Höhe von jährlich 500.000 Euro für einen Zeitraum von drei Jahren.

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Mehr Zeit für sprechende Medizin, um Kinder aus sozial schwachen Gegenden zu stärken - mit einer extra Vergütung ist das in einigen Teilen Hamburgs nun möglich.

Pädiater, die für chronisch kranke oder psychisch belastete Kinder bestimmte Leistungen anbieten, können dafür ab 2022 einen Zuschlag in Höhe von 50 % der normalerweise abrechenbaren Gesprächsziffern (04355, 04230 oder 04231) ansetzen. Die Leistungen umfassen das problemorientierte Gespräch und die sozialpädiatrisch orientierte Beratung. Dank der Zuschläge können sich die Pädiater weit intensiver Problemfamilien zuwenden oder beispielsweise die Stundenzahl von hierfür qualifizierten Fachkräften aufstocken.

Kathrin Herbst, Leiterin der Landesvertretung Hamburg des Verbands der Ersatzkassen e.V., verweist stellvertretend für die gesetzlichen Krankenkassen in Hamburg nicht ganz ohne Stolz darauf, dass trotz des strikten Wirtschaftlichkeitsgebots der Kassen die Versorgung mit sprechender Medizin gerade für belastete Kinder und Jugendliche besonders gestärkt werden konnte.

Das Schweigen über Suchterkrankungen brechen

Dies trifft auch für ein weiteres Präventionsprojekt - speziell für Kinder mit sucht- und psychisch kranken Eltern - in Hamburg-Mitte zu. Denn bei diesen Kindern besteht ein erhöhtes Risiko, dass sie ebenfalls eine Abhängigkeit oder seelische Störung entwickeln. Die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) fördern in einigen Stadtteilen ein innovatives Gruppenangebot für betroffene Kinder und Jugendliche im Alter von sieben bis 14 Jahren. Damit soll die seelische Widerstandsfähigkeit dieser Kinder gestärkt werden. Das Projekt, das bis 2025 läuft, wird mit 110.000 € vom GKV-Bündnis für Gesundheit über die zielgruppenspezifische Projektförderung im Rahmen des Präventionsgesetzes unterstützt.

In der Gruppe lernen die Kinder, über ihre Belastungen zu sprechen und damit das Schweigen in ihren Familien in Bezug auf die Tabuthemen Sucht oder psychische Krankheit zu brechen. Sie werden von speziell ausgebildeten Fachkräften angeleitet und können positive Erfahrungen mit Gleichaltrigen und Erwachsenen machen. Dadurch wird ihr Selbstwertgefühl gestärkt. Sie bekommen altersgerechte Informationen zu den Themen Sucht und psychische Krankheiten. Zusätzlich finden Elternabende statt. Damit wird die ganze Bandbreite der Belastungen von Kindern sucht- und psychisch kranker Eltern in den Blick genommen.

Diese Modellprojekte aus Hamburg werden auch von Nezahat Baradari unterstützt, niedergelassene Kinder- und Jugendärztin in Attendorn und neu gewählte Bundestagsabgeordnete der SPD im Deutschen Bundestag. Natürlich müsse man die Ergebnisse dieser Modellversuche erst mal abwarten. Die gezielt auf benachteiligte Kinder ausgerichteten Projekte tragen jedoch zur Vertrauensbildung mit dem professionellen Gesundheitssystem bei. Gerade in prekären Stadtteilen müssten die Kinder- und Jugendärzte häufig in die Rolle von Sozialarbeitern schlüpfen. Diese Herausforderung können sie nun eher bewältigen, da sie sich nun intensiver den sozialpädiatrischen Belangen dieser Familien widmen können.

"Man muss die Menschen erzählen lassen"

Die Modellansätze aus Hamburg werden auch von Professorin Ute Thyen, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ), begrüßt. Denn es brauche besondere Kompetenzen, mit benachteiligten Familien kultursensitiv und partizipativ umzugehen. Hierfür benötige man zweierlei:

  • Deutlich mehr Zeit. Daher seien die geplanten Zuschläge voll gerechtfertigt. Man muss die Menschen erzählen lassen, hören, was auf ihrer Agenda oben steht, häufig werden Sprach- und Kulturmittler gebraucht, sehr häufig auch gemeinsame Treffen mit den anderen Helfern, um das schädliche, unkoordinierte Nebeneinander verschiedener Helfersysteme aufzubrechen.

  • Hohe medizinische Expertise, denn viele der betroffenen Kinder und Jugendlichen haben zum Teil seltene, schwer behandelbare und die Familie belastende chronische Erkrankungen.

Überrascht ist sie von den Modellprojekten in Hamburg keineswegs, da es in der Hansestadt schon lange Tradition ist, weit über die Sozialversicherungssysteme hinaus innovative Versorgungsangebote zu erproben.

Insbesondere das Projekt in den Bezirken Bergedorf, Mitte und Harburg sei schon deshalb ein Quantensprung, weil nun niedergelassene Kinder- und Jugendärzte in benachteiligten Stadtteilen besser eine zusätzliche sozialpädiatrische Versorgung übernehmen können. Denn häufig sei es so, dass in den besser gestellten Stadtteilen die Praxisdichte sehr hoch ist und in den benachteiligten Stadtteilen ein Mangel an Kinder- und Jugendärzten herrscht. Warum? Weil dort die Verdienstmöglichkeiten wegen fehlender Privatpatienten geringer sind.

Laut Thyen müssten in solchen Regionen jedoch auch sozialpädiatrische Zentren (SPZ) gezielt gefördert werden. Es sei typisch, dass es gerade in den genannten Bezirken keine SPZ gibt. In diesen Zentren werde schon immer ein multiprofessionelles Vorgehen verfolgt - stets in Bezug auf die Lebenswelten der Kinder und Familien. Hierbei würden aber auch den SPZ wegen der ungeklärten Finanzierung der nicht ärztlichen heil- und sozialpädagogischen Leistungen immer wieder Steine in den Weg gelegt. Bisher konnte das lediglich durch großes Engagement der SPZ-Pädiater und aller anderen nicht ärztlichen Mitarbeiter "mehr schlecht als recht" ausgeglichen werden.

Gut investiertes Geld

Fragen müsse man sich jedoch auch, wie man sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche über die Angebote der Niedergelassenen und der SPZ hinaus besser erreichen kann. Hier kommt für Thyen dem kinder- und jugendärztlichen Dienst im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) eine tragende Rolle zu. Im Rahmen der Pandemie sei der ohnehin unzureichend ausgestattete ÖGD jedoch nahezu vollständig von seinen spezifischen Tätigkeiten entbunden worden. Diese Dienste müssten daher nun massiv gestärkt werden. Bleibt die Hoffnung, dass dies im Rahmen des Pakts für den ÖGD und des geplanten Aktionsprogramms für Kinder und Jugendliche der neuen Bundesregierung auch gelingt.

In diesem Kontext unterstützt die DGSPJ bereits seit Jahren alle Initiativen dabei, Gesundheitsfachkräfte in Schulen und Kindertagesstätten einzusetzen. Nur so könne die Kindergesundheit auf Bevölkerungsebene angegangen und gehoben werden. Vor allem müssen in solchen Bezirken alle Akteure eine Verantwortungsgemeinschaft bilden. Genau das - betont Thyen - wird in dem beschriebenen Projekt in Hamburg weiter befördert.

Insofern sind die Mittel für das Hamburger Modellprojekt zur Stärkung von Kindern in sozial schwachen Vierteln sehr gut investiertes Geld. Im Erfolgsfall sollten solche Projekte in die Regelversorgung überführt oder in Form von Selektivverträgen weitergeführt werden, wünscht sich die Bundestagsabgeordnete Baradari. Das würde langfristig höhere Folgekosten für die Allgemeinheit und den betroffenen Kindern viel Leid ersparen. Zugute käme das auch den Kinder- und Jugendärzten. Denn für die Pädiatrie sei viel zu wenig Geld im System. Baradari: "Es wird von uns zwar stets eine erstklassige Leistung gefordert, vergütungsmäßig sind wir jedoch nach wie vor Ärzte zweiter Klasse."