ME/CFS: Hilflose Patienten in einem ohnmächtigen Gesundheitssystem
Die Autorin dieses Buches, Sibylle Reith, musste ihren Beruf als Lehrerin aufgeben, als sie an Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronisches-Fatigue-Syndrom (ME/CFS) erkrankte. Doch diese Erkrankung war in Medizin und Gesellschaft zu weiten Teilen ein blinder Fleck. Diese Erfahrung motivierte Reith zu einer umfassenden, internationalen Recherche, dem Aufbau eines eigenen Netzwerks und einer vertieften Einarbeitung in medizinische Sachverhalte. Entstanden ist ein 192 Seiten starkes Buch für Patienten, Behandler und alle anderen, die sich mit der Thematik ME/CFS auseinandersetzen wollen. Die Beschwerden von ME/CFS-Patienten sind real, werden aber oft nicht ernst genommen. Mit wenigen Ausnahmen zeigt sich das medizinische System zwar ohnmächtig - es gibt derzeit kein Therapieangebot -, aber dennoch durchaus wertend.
Zunächst wird das Krankheitsbild in seiner Ätiologie, seinen diagnostischen Kriterien, seinem Verlauf, der Differenzialdiagnostik und den sozialen Aspekten erklärt. Ausführlich erfolgt eine Auseinandersetzung mit der jahrelang als maßgeblich geltenden "PACE"-Studie ("Pacing, graded Activity, and Cognitive behaviour therapy; a randomised Evaluation"). Diese unter Missachtung wissenschaftlicher Kriterien veröffentlichte Studie hat international über viele Jahre zu Fehlbeurteilungen, Psychiatrisierung und falschen therapeutischen Ansätzen geführt. Der Diskurs ist auch heute noch relevant. Aber auch die Problematik der deutschen "Leitlinie Müdigkeit" in Bezug auf ME/CFS und die Entwicklungen der britischen NICE-Guideline werden erläutert.
Es folgt eine Analyse der Versorgungssituation in Deutschland, mit einem besonderen Akzent auf die durch Fehldiagnostik und -behandlung geprägte Situation von Kindern und Jugendlichen. Im ausführlichen Kapitel 4 wird sehr verständlich der Forschungsstand bis Anfang 2019 dargestellt. Dem besonders problematischen Feld einer sauberen Diagnostik und den therapeutischen Optionen ist Kapitel 5 gewidmet. Besonders wertvoll sind die Serviceseiten im Anhang. Hier gibt es Informationen zu Selbsthilfegruppen, Büchern, Fortbildungen, Verbänden und mehr.
Zusammenfassend bietet das Buch von Frau Reith einen hervorragenden Einstieg in die komplexe Problematik von ME/CFS mit einer Benennung und Einordnung aller relevanten Perspektiven. Dies gilt auch drei Jahre nach Erscheinen des Buches, zumal Long-COVID die Problematik der Diagnostik und Behandlung multisystemischer Erkrankungen in den Fokus rückt.