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Die Pandemie hat Kinder und Jugendliche schwer getroffen. Ganz besonders die psychischen Folgen sind noch nicht abzusehen. Im Interview erfahren Sie von Alexandra von Tettenborn, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin aus München, wie Sie betroffene Kinder und ihre Familien entlasten können.
Welche psychischen Belastungen und Störungen als Folge der Corona-Pandemie beobachten Sie bei Kindern und Jugendlichen am häufigsten?
Alexandra von Tettenborn: Zum Pandemiegeschehen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland gibt es erst wenige Studien. International sehen wir jedoch, dass es eine Zunahme vor allem an depressiven und auch an Angstsymptomen gibt. In Deutschland wurde beispielsweise die COPSY-Studie durchgeführt, in der bei den untersuchten Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu vor der Pandemie etwa eine verminderte Lebensqualität und Erhöhung psychischer Auffälligkeiten, wie Verhaltensprobleme, Hyperaktivität, Probleme mit Gleichaltrigen und emotionale Probleme, vorliegen. Außerdem wird eine höhere Medien- und Spielsucht verzeichnet. Familiäre Stressbelastungen, die zum Beispiel durch die Schließung von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen entstehen, können zu emotionalen Problemen und psychosomatischen Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen führen sowie vor allem bei jüngeren Kindern zu Reizbarkeit, Aggressivität und regressiven Verhaltensweisen, etwa Schreien. Die Inanspruchnahme von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist gestiegen. Auch hier in unserer Hochschulambulanz haben wir deutlich mehr Anfragen. Die Pandemie hat sich als Brennglas für psychische Erkrankungen erwiesen.
Die von uns durchgeführte Online-Studie CoviFam, in der Eltern von Kindern im Alter von null bis drei Jahren zu den Auswirkungen der Pandemie befragt wurden, zeigte, dass die elterliche Belastung gestiegen ist. Es gab mehr Anzeichen für Stress, depressive Symptomatik und verminderte Bondingqualität. In der Gruppe von Kindern zwischen null und eins haben wir herausgefunden, dass es bei den Müttern zu Belastungen aufgrund von kindlichen Verhaltensauffälligkeiten kam und dass bei den Kindern das Schlafverhalten auffällig war.
Hat die Pandemie auch positive Dinge bewirkt?
von Tettenborn: Ja, es gibt auch Hinweise auf positive Effekte. Einige Zielgruppen profitieren von einer "Entschleunigung", die teilweise stattgefunden und familiäre Dynamiken entspannt hat. Durch vermehrte gemeinsame Aktivitäten konnte der Zusammenhalt innerhalb der Familien wachsen. Das erleben wir auch in der Praxis, etwa bei vorbelasteten Kindern, bei denen sich der schulische Druck verringert hat und weniger äußere Anforderungen oder Konkurrenzsituationen in der Peergruppe vorhanden sind. Bei diesen Kindern verringert sich die Symptomatik erst einmal, meist jedoch nicht auf Dauer. Bei sozial ängstlichen Kindern kann zum Beispiel eine Entlastung entstehen, da sie angstbesetzte Situationen vermeiden können.
Wie können psychische Probleme oder Erkrankungen in der Kinderarztpraxis erkannt werden?
von Tettenborn: Die wichtigste Grundlage dabei ist ein Beziehungsaufbau zu den Kindern und Jugendlichen, um in Kontakt zu treten und zu signalisieren, dass es in Ordnung ist, darüber zu sprechen - auch um zu entpathologisieren und enttabuisieren. Kinderärztinnen und -ärzte sollten auch einfach nachfragen, wenn sie den Eindruck haben, dass eine psychische Problematik bestehen könnte. So signalisieren sie eine Offenheit, dass man gemeinsam nach Lösungen sucht und man an der Seite der Kinder und Jugendlichen ist.
Bei der Diagnostik kann man je nach Kapazität und Zeit auf eine Vielzahl von Screening-Instrumenten für verschiedene psychische Störungen in den unterschiedlichen Altersgruppen zurückgreifen, um die Krankheitsbilder valide zu erfassen. Wichtig ist zudem eine gute Anamnese und gut zu erfassen, was die Kinder und Jugendlichen selbst und was die Eltern berichten. Gibt es Verhaltensänderungen? Ziehen sich die Kinder mehr zurück oder sind sie auf einmal viel wütender als vorher? Gibt es etwas, was aktuell bei der Stimmung oder im Antrieb auffällt? Gibt es Selbstverletzungen? Oder gibt es Dinge, vor denen die Kinder plötzlich ganz viel Angst haben und die sie vermeiden? Auf diese Dinge sollten die Kinder und ihre Eltern gezielt angesprochen werden.
Lohnt es sich, Informationsmaterial in der Praxis auszulegen?
von Tettenborn: Ja, es ist auf jeden Fall hilfreich, Flyer, Broschüren und Fachinformationen auszulegen oder Poster aufzuhängen, damit eine Sensibilisierung in den Praxen vorhanden ist. Dadurch wissen die Kinder und Jugendlichen, dass sie mit diesen Themen landen können. Die Wirkung dieser Maßnahmen wird oft unterschätzt. Doch es ist eine niederschwellige Möglichkeit, diese Dinge zu thematisieren. Informationsmaterial kann auch mitgegeben werden, wenn die Jugendlichen momentan nicht darüber sprechen möchten. So können sie oder ihre Eltern es zuhause in Ruhe nachlesen.
Auch das Thema Misshandlung und häusliche Gewalt sollte in diesem Kontext berücksichtigt werden. Bei Verdacht sollten die Kinder und Jugendlichen behutsam darauf angesprochen werden, weil die Pädiatrie hier eine zentrale Rolle hat. Circa 40 % der Gefährdungsmeldungen kommen vor allem von Schulen, Kitas oder Kinderarztpraxen. Während der Pandemie kommt noch hinzu, dass viele Menschen aus Infektionsängsten nicht mehr in die Praxen gehen. Daher ist jeder Besuch ein bedeutsamer, um diese Dinge zu erkennen.
Therapieplätze sind Mangelware. Wie können Pädiater ihre Patienten mit psychischen Problemen unterstützen?
von Tettenborn: Neben einem Gespräch können auch andere Angebote gemacht werden, wie eine Ergotherapie. Daneben gib es auch vielversprechende Frühförderprogamme, die für die pädiatrischen Praxen entwickelt wurden, oder Präventionsmaßnahmen, um Risikokinder früh zu erkennen. Konkret können auch Maßnahmen wie Psychoedukation, unterstützende Beratung, Vermittlung von Coping-Strategien, Strategien für Verhaltensänderung und Stressbewältigung eine Option sein - also alles, was unterstützend wirkt. Wenn man merkt, dass diese Strategien nicht ausreichen und es besser wäre, wenn die Familien noch mehr Unterstützung erhalten, dann sollte die Weitervermittlung an Spezialisten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder -psychotherapie erfolgen. Die Pädiaterinnen und Pädiater haben dabei eine ganz wichtige Lotsenfunktion - sie können die Lage erkennen und zunächst selbst in die richtigen Bahnen lenken oder die Familien dabei begleiten, anderweitig unterzukommen. Denn Therapieplätze sind nicht leicht zu bekommen.
Welche Hilfsangebote können Sie noch empfehlen, eventuell für Familien aus prekären und bildungsfernen Verhältnissen, die besonders häufig betroffen sind?
von Tettenborn: Sozial benachteiligte Familien zu erreichen, ist häufig schwierig. Es ist wichtig, vorhandene Angebote anzunehmen, zum Beispiel durch Schulen in Form von Schulpsychologinnen, Vertrauenslehrern oder Schulsozialarbeit. Oder auch Erziehungsberatungsstellen aufzusuchen, die ein niederschwelliges Angebot darstellen, in denen man als Familie bestimmte Dinge gut klären kann, Beratung findet oder auch weiter verwiesen wird. Man sollte sich auch nicht davor scheuen, Angebote der Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen, das kann auf jeden Fall unterstützend sein. Es gab auch viele dringliche Forderungen an die Regierung, um sozial benachteiligte Familien zu unterstützen. Inzwischen hat die Regierung verschiedene Pakete geschnürt (Box 1). Die Frage ist jedoch, welche Zugänge haben Familien zu diesen Hilfsangeboten? Pädiaterinnen und Pädiater könnten hier unterstützend zur Seite stehen.
Wie wird es weitergehen? Vermuten Sie, dass es Langzeitfolgen geben wird?
von Tettenborn: Das können wir noch nicht sagen, es gibt auch noch kaum Studien zu diesem Thema. Klar, es ist die Vermutung da, dass sich die Isolation, die pandemiespezifischen Maßnahmen, die psychischen Problematiken und die soziale Schere, die auseinandergeht, langfristig auswirken werden. Gleichzeitig wäre auch sozusagen ein posttraumatisches Wachstum möglich, wie wir es aus dem Kontext anderer gesamtgesellschaftlicher Krisenlagen kennen.
Frau von Tettenborn, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Nicola Zink.
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Zink, N. Psychische Probleme in der Pandemie - "Signalisieren Sie Offenheit!". Pädiatrie 34, 52–55 (2022). https://doi.org/10.1007/s15014-022-3981-9
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