? "Herr Doktor, ich kann mir das nicht erklären! Unsere Amelie geht in die sechste, der kleine Bruder Andreas in die fünfte Klasse des Gymnasiums. Die beiden sind derart verschieden: Der Großen fliegt alles zu, beim Kleinen scheint alles vergebens: Büffeln, Nachhilfe, Nachsitzen - nichts bleibt hängen. Warum?"

!Prof. Dorsch: Das sollte Sie nicht verwundern! Jedes Kind ist einzigartig, auch in seinem Lernverhalten! Unsere älteste Tochter konnte kaum laufen, aber wollte unbedingt Dreirad fahren. Sie ließ sich von Misserfolgen nicht abbringen, schaffte es und war stolz. Die Jüngste hatte andere Prioritäten, beobachtete die Geschwister, stieg mit drei Jahren aufs Dreirad, fuhr los und war zufrieden.

Woran das liegen mag? Das Lernverhalten wird oft in den ersten Lebensjahren geprägt. Vererbung spielt sicher eine Rolle, aber nicht die entscheidende. Nach Jean Piaget durchlaufen wir vier Stufen unserer kognitiven Entwicklung, bevor wir unsere volle persönliche Intelligenz erreichen können: Im sensomotorischen Stadium von der Geburt bis zum zweiten Lebensjahr entwickeln wir durch Erleben und Bewegung unsere fünf Sinne. Unser Gehirn möchte so viel wie möglich sehen, hören, riechen, schmecken und berühren. In der präoperationalen Stufe (2-7 Jahre) wird unser Denken hauptsächlich durch symbolische Funktionen und intuitive Gedanken geprägt. In der konkret operationalen Stufe (7-11 Jahre) sind wir reif für die Schule! Wir entdecken die Logik. Das befähigt uns zu sozialen Aktivitäten, zum Lernen von Schreiben, fremden Sprachen und Mathematik. Die formale operationale Stufe (Alter 12+) verschafft uns die Fähigkeit, rational über abstrakte Konzepte und hypothetische Ereignisse nachzudenken. Wir lernen, unser Leben zu planen und Prioritäten zu setzen.

Auch unsere soziale Umgebung beeinflusst unser Lernverhalten. Wenn nun Amelie dem kleinen Andreas alles erklären und vorschreiben sollte, könnte sich irgendwann Widerstand regen: Vielleicht vermutet Andreas, dass Amelie ihm nur zeigen will, dass sie klüger ist. Falls sich der Verdacht bestätigt, wird sich das auch auf sein Lernverhalten auswirken. Schauen Sie also bitte genau hin, wie Andreas lernt und wie er sich im Gespräch mit Familienmitgliedern und gleichaltrigen Kindern verhält.

! Prof. Zierer: Für Lehrpersonen ist es ein bekanntes Phänomen: Die Kinder in einer Klasse sind, obwohl sie vom Alter her meist gar nicht so weit auseinanderliegen, doch recht unterschiedlich. Dass diese Unterschiede auch bei Geschwistern auftreten, überrascht manche Eltern: Man hat doch allen dieselbe Liebe gegeben, dieselbe Aufmerksamkeit geschenkt, dieselbe Förderung zuteilwerden lassen.

Im Kern macht dieses Phänomen auf eine pädagogische Grundeinsicht aufmerksam: Jeder Mensch ist verschieden, auch die eigenen Kinder. So kann das eine schneller laufen und das andere besser malen; das eine arbeitet gründlicher und das andere hört besser zu. Was können die Eltern nun tun? Zunächst lautet die wichtigste Botschaft: Jedes Kind braucht seine eigene Erziehung. Verfahren, die bei einem Geschwisterkind funktioniert haben, müssen nicht beim anderen Kind passen. Sofern sich ein Scheitern zeigt, müssen neue Wege beschritten werden. Dabei ist ein umfassender Blick auf das Kind wichtig: Was kann es bereits gut, was noch nicht? Wie steht es um die Motivation? Welche Strategien des Lernens hat es? Wie kann es mit Fehlern umgehen? Erfolgreiche Erziehung erfordert es, das einzelne Kind in den Blick zu nehmen.

Angesichts dieser Schlussfolgerungen könnte der Eindruck entstehen, dass Erziehung ein unmögliches Unterfangen ist. Denn wie soll sie bei dieser Individualität der eigenen Kinder je gelingen? Wer so argumentiert, verkennt, dass alle wirkungsvollen Verfahren einen gemeinsamen Kern haben und damit die Grammatik einer erfolgreichen Erziehung beschreiben: eine positive Atmosphäre, in der Vertrauen und Zutrauen herrschen, eine Fehlerkultur, in der Fehler nicht als Makel, sondern als Motor der Entwicklung gesehen werden, sowie klare Kommunikation. Diese Grammatik der Erziehung kann Eltern immer wieder als Richtschnur an die Hand gegeben werden.