? Zur Einschulungsuntersuchung kommt Florian erstmals mit seinen Eltern in unsere Praxis. Der Junge zeigt sich an der ganzen Einrichtung interessiert. Als er Schubladen durchsucht und den Mülleimer ausleert, wird es Zeit, Grenzen zu setzen. Die Eltern erklären aber, dass sie Florian frei erzogen hätten und darauf vertrauen, dass er von selbst Manieren lernen würde. Dressur käme nicht infrage.

!Prof. Dorsch: In der Kürze der Zeit, die ich für die Vorsorgeuntersuchung hatte, konnte ich mit den Eltern keine Grundsatzdiskussion führen. So habe ich mich auf Grundlegenes beschränkt: Jede Phase der kindlichen Entwicklung folgt eigenen Regeln und Gesetzen. Als Säuglinge erwerben wir durch die liebevolle Zuwendung der Eltern ein Urvertrauen. Kleinkinder bis zum dritten Lebensjahr wollen ihre Umwelt erforschen und alles "allein" schaffen. Der "Größenwahn" der Dreijährigen ist oft faszinierend. Man sollte ihn genießen und nicht allzu stark begrenzen, manche Kinder zweifeln sonst an der Richtigkeit ihrer eigenen Wünsche und Gefühle. Jungen Eltern gibt man den Rat, in dieser Phase "eindeutig, aber tolerant" zu sein. Im Spielalter vom dritten bis zum fünften Lebensjahr entwickelt das Kind ein Gefühl für soziale Rollen und Institutionen und möchte sich nützlich fühlen. Behindert man Kinder in dieser Phase zu stark, kann die Überzeugung entstehen, dass jede Eigeninitiative Schuld bedeutet. Eltern sollten ihre Kinder ermuntern, eigene Ideen zu entwickeln und auszuprobieren. Dabei gilt es, zwei Extreme zu vermeiden: die Erziehung zur Rücksichtslosigkeit und die zur Gehemmtheit.

Florian wird demnächst eingeschult und erreicht dann die nächste Entwicklungsstufe. In dieser Phase wollen Kinder zuschauen, mitmachen, beobachten und teilnehmen. Sie lernen, sich Anerkennung durch Leistung zu verschaffen.

Kinder der dritten und vierten Phase unterscheiden sich übrigens deutlich in der Art ihres Spielens. Vierjährige haben kaum ein inneres Verständnis für Regeln, ein "normaler" Siebenjähriger hingegen achtet auf sie. Lehrkräfte, die ihren Schülern keine Regeln nahebringen können oder wollen, kommen ihren Aufgaben nicht nach. Sie sind auch nicht beliebt!

!Prof. Zierer: Es ist eine der ältesten Dichotomien in der Pädagogik, die in einer bekannten Formulierung von Immanuel Kant immer wieder diskutiert wird: Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Es überrascht nicht, dass sich Extreme in der Diskussion bilden. Auf der einen Seite jene, die der Überzeugung sind, dass das Kind von Natur aus Grenzen braucht. Auf der anderen Seite wird argumentiert, dass das Kind von Natur aus gut ist und sich in Freiheit entfalten kann. Beide Positionen haben aus theoretischer Sicht überzeugende Ansätze.

Dank einer Vielzahl an empirischen Studien ist heute unstrittig, dass die skizzierten Positionen kein Entweder-oder beschreiben, sondern ein Sowohl-als-auch. Das Kind ist ein freies Wesen und braucht Grenzen! Friedrich Schleiermacher hat in seiner Philosophie darauf hingewiesen, dass es keine Freiheit ohne Grenzen gibt, sondern Grenzen zur Freiheit gehören. Denn eine Freiheit ohne Grenzen wird zur Beliebigkeit. Für die Erziehung von Kindern folgt daraus, dass das Kind zwar in der Lage ist, sich frei zu entscheiden, aber lernen muss, mit dieser Freiheit umzugehen.

Jürgen Habermas spricht daher von der vernünftigen Freiheit. Der Mensch hat folglich die Gabe der Freiheit, die zur lebenslangen Aufgabe wird. Es ist für alle Erziehungspersonen wichtig, Kindern immer wieder Räume der Freiheit zu geben und Grenzen zu setzen. Dass damit immer ein Abwägen und Ausbalancieren verbunden ist, liegt auf der Hand und erfordert von Eltern eine stete Reflexion.

Hierfür sind Gespräche mit Kinderärzten und Lehrpersonen wichtig. Nutzen Sie also Situationen, in denen Sie Dichotomien der Erziehung - wie die aus Freiheit und Zwang - beobachten, und stellen Sie Fragen. Da Ratschläge vielfach doch "Schläge" sind, bietet es sich an, Interesse zu zeigen, nach den Gründen für das Verhalten der Eltern zu fragen und sie mit wissenschaftlichen Ergebnissen in die Reflexion zu bringen.