Die COVID-19-Pandemie lässt auch bei Kindern und Jugendlichen den Bedarf an psychotherapeutischer Hilfe in die Höhe schnellen. Jedoch sind die dafür notwendigen Plätze oftmals nicht geschaffen worden und die entsprechenden Einrichtungen sind an ihrem Limit. Und so müssen viele Kinder- und Jugendärzte die Notlage mit abpuffern.

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In den letzten zehn Jahren hat die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die psychotherapeutische Hilfe benötigen, um mehr als 100 % zugenommen!

Die Daten sind besorgniserregend, der Trend alarmierend: Immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland sind in psychotherapeutischer Behandlung. Innerhalb von elf Jahren hat sich die Zahl der jungen Patienten mehr als verdoppelt. Das geht aus den Statistiken des Arztreports 2021 der Barmer hervor. Demnach benötigten im Jahr 2019 rund 823.000 Kinder und Jugendliche psychotherapeutische Hilfe. Das sind 104 % mehr als im Jahr 2009. Und man kann durchaus davon ausgehen, dass die Daten der Barmer so oder so ähnlich auch für die anderen Krankenkassen in Deutschland Gültigkeit besitzen.

Wie aus dem Arztreport weiter hervorgeht, gibt es allerdings bei der Inanspruchnahme psychotherapeutischer Leistungen deutliche regionale Unterschiede. Am größten war der Behandlungsbedarf im Jahr 2019 demnach in Berlin (5,19 % aller Kinder und Jugendlichen), gefolgt von Nordrhein-Westfalen und Hessen. Den geringsten Anteil verzeichnete Mecklenburg-Vorpommern mit 3,33 % aller jungen Menschen. Allerdings sind dort die Zahlen besonders stark in die Höhe geschnellt: So liegt in Mecklenburg-Vorpommern die Steigerungsrate der Inanspruchnahme seit dem Jahr 2009 bei sage und schreibe 239 %! Überdurchschnittliche Steigerungsraten verzeichnen auch Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Der niedrigste Anstieg (52 %) wurde in Bremen registriert.

Behandlungen setzen meist zu spät an

Den Ergebnissen des Arztreports zufolge hatten im Jahr 2019 rund 162.300 Kinder und Jugendliche erstmals eine psychotherapeutische Richtlinientherapie erhalten. Die Ursachen dafür seien sehr unterschiedlich. In knapp 37.400 Fällen waren Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen ausschlaggebend. Die zweithäufigste Ursache für eine erstmalige Therapie waren im Jahr 2019 Depressionen - in rund 23.100 Fällen -, gefolgt von emotionalen Störungen im Kindesalter mit gut 22.000 Fällen.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Behandlung häufig zu spät ansetzt. Dies belegt eine Langzeitbetrachtung von Kindern und Jugendlichen, die im Jahr 2014 erstmals eine Psychotherapie erhalten haben und mindestens zwei Jahre zuvor keine anderweitige therapeutische Hilfe benötigten. So wurde bei mehr als jedem dritten Betroffenen bereits fünf Jahre vor Start der Richtlinientherapie zumindest eine psychische Störung dokumentiert. Nur bei 40,7 % beschränkten sich die Psychotherapiesitzungen auf maximal ein Jahr. Fast genauso viele Kinder und Jugendliche - 36,4 % - befanden sich auch mehr als zwei Jahre nach Start der Behandlung noch in Psychotherapie.

Dabei ist die Therapie nicht immer von Erfolg gekrönt. Denn mit zunehmendem Grad der Chronifizierung wird die Behandlung immer schwieriger und langwieriger. So liegen zum Beispiel nach den Erhebungen der Barmer bei fast zwei Drittel aller Betroffenen (62,5 %) auch noch fünf Jahre nach Start der Psychotherapie psychische Störungen vor.

Die COVID-19-Pandemie mit all ihren strikten Kontaktbeschränkungen hat die Situation nun noch weiter verschärft. Bei Barmer-versicherten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis einschließlich 24 Jahren stiegen die Zahlen für die Akutbehandlung sowie die Anträge etwa für die erstmalige Therapie und deren mögliche Verlängerung im Jahr 2020 nochmal um 6 % auf mehr als 44.000 im Vergleich zum Vorjahr an.

Noch wesentlich dramatischere Steigerungsraten weist die Deutsche Psychotherapeuten-Vereinigung (DPtV) aus. Nach ihren Angaben ist die Zahl der Therapieanfragen von Kindern und Jugendlichen - verglichen wurde eine Januarwoche aus dem Jahr 2021 mit dem Januar 2020 - um 60 % gestiegen. Laut einer Blitzumfrage der DPtV unter 685 Psychotherapeuten wurden im vergangenen Jahr im Schnitt 3,7 Patientenanfragen pro Woche gestellt, im Jahr 2021 sind es aktuell 5,9 Anfragen. "Nach Ergebnissen der COPSY-Studie zeigt fast jedes dritte Kind ein Jahr nach Beginn der Pandemie psychische Auffälligkeiten. Allerdings, so schränkt DPtV-Bundesvorsitzender Gebhard Hentschel ein, führen diese "nicht zwangsläufig zu einer psychischen Erkrankung."

Kinder- und Jugendpsychiatrie am äußersten Limit

Einer Onlinebefragung des Bundesverbandes der Vertragspsychotherapeuten (bvvp) von rund 400 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychiatern und Kinderärzten zufolge zeigen viele Kinder und Jugendliche in der Pandemie jedoch durchaus verstärkt Ängste und befassen sich vermehrt mit dem Thema Tod. Daher benötigen immer mehr Kinder und Jugendliche nicht nur psychotherapeutische, sondern auch kinder- und jugendpsychiatrische Unterstützung.

Die Angebote in diesem Bereich reichten dabei längst nicht mehr aus, da die Kinder- und Jugendpsychiatrien massiv überlastet sind, erklärte Jakob Maske, Bundespressesprecher des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Er löste mit dieser Aussage kürzlich einen Mediensturm aus, weil er behauptete, dass die Triage (keine Versorgung für alle, priorisierte Behandlung nach Dringlichkeit) mittlerweile auch in den Kinder- und Jugendpsychiatrien angewandt werden muss. Das sei jedoch keinesfalls Kritik an den Ärzten, die ihrerseits hervorragende Arbeit leisteten. Maske wollte damit lediglich darauf hinweisen, dass mittlerweile genau hingeschaut werden müsse, wer noch wann behandelt werden könne.

Auch Christian Fleischhaker, kommissarischer ärztlicher Direktor der Freiburger Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter, bestätigt einen enormen Anstieg der Patientenzahlen, so dass durchaus eine "Auswahl" getroffen werden müsse. Wenn junge Patienten allerdings akut suizidal seien oder wenn sie ein Problem hätten, bei dem es um Leib und Leben gehe, würden sie immer noch sofort aufgenommen. Bei weniger schwerwiegenden Erkrankungen könnte es allerdings durchaus einige Monate bis zum ersten Behandlungstermin dauern. Den Begriff "Triage" lehnt Fleischhaker dennoch ab. Die Engpässe seien nicht neu, sondern in den Pandemiejahren 2020 und 2021 nur noch verschärft worden. So sei es schon vor Corona schwierig gewesen, Kinder und Jugendliche unterzubringen. Und in der Pandemie seien keine neuen Plätze geschaffen worden, obwohl das dringend notwendig gewesen wäre.

Offizielle Zahlen dazu, wie belastet Kinder- und Jugendpsychiatrien in ganz Deutschland derzeit sind, gibt es allerdings nicht. Doch die Nachfragen bei vielen Kliniken deutschlandweit lassen das Ausmaß erahnen. Viele geben an, dass die Anzahl der Notfallpatienten seit Beginn der Pandemie gestiegen sei und sie zum Teil sehr lange Wartezeiten hätten. Alle befragten Kliniken betonten aber, dass akut gefährdete Kinder nicht weggeschickt oder nur noch bestimmte Kinder behandelt werden könnten. Auch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie widerspricht der "Triage" vehement. Es gebe zwar schwierige Engpässe zu bewältigen. Dies führe aber nicht dazu, dass akut gefährdete Kinder abgelehnt werden müssten.

"Die Kinderärzte müssen die Misere auffangen"

Sicher ist aber, dass es zu "Drehtürsituationen mit Kriseninterventionen" kommt, sagt Till Reckert, Kinder- und Jugendarzt aus Reutlingen und Landespressesprecher des BVKJ in Baden-Württemberg. "Das hat sich gehäuft. Und die, die keinen Platz bekommen, landen dann wieder bei den Kinder- und Jugendärzten. "Diese müssen dann die Misere auffangen, die schon seit Langem besteht und die die Politik nun endlich in den Fokus rücken müsste."

Krankenkassen preschen jetzt schon vor. Die Barmer beispielsweise bietet ein Kinder- und Jugendprogramm (KJP) an, bei dem derzeit fast 580.000 Kinder und Jugendliche eingeschrieben sind. Das KJP beinhalte mehrere Extra-Vorsorgeuntersuchungen, die weit über den Leistungen der Regelversorgung lägen. Die teilnehmenden Kinder- und Jugendärzte achteten dabei auch gezielt auf psychische Auffälligkeiten. Zudem unterstütze die Barmer das Online-Angebot krisenchat.de für Menschen bis 25 Jahren. Bei psychischen Problemen - etwa durch Cybermobbing - könnten sie sich unkompliziert und anonym an geschulte Psychologen wenden.

Doch das allein wird nicht ausreichen. Vor allem wird es darauf ankommen, dass Eltern, Bezugspersonen, Kinder- und Jugendärzte, ärztliche und psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendpsychiater künftig viel enger als bislang zusammenarbeiten, mahnt Barmer-Chef Straub. Eine solch enge Kooperation sei insbesondere in den Jahren nach der Pandemie wichtiger denn je. Ansonsten werde es nicht gelingen, dass gerade die jungen Menschen, die ohnehin schon psychisch angeschlagen waren, die Folgen der COVID-19-Pandemie bewältigen und auf Dauer hinter sich lassen können. Noch ein alarmierender Trend, der die Politiker wachrütteln sollte!