Auch wenn sich die Aufmerksamkeit aktuell auf die COVID-19-Pandemie und SARS-CoV-2 konzentriert, dürfen andere gefährliche Krankheitserreger nicht vergessen werden. Allen voran das Masernvirus, das nach wie vor zirkuliert. Entgegen des Ziels, die Masern bis 2015 in Europa auszurotten, steigen die Zahlen - und das weltweit. Ursachenforschung eines globalen Problems.

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Die Ausrottung der Masern gelingt nur, wenn alle zusammenarbeiten.

Seit dem Jahr 2018 weisen das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf eine weltweite Zunahme von Masernfällen hin. Laut den Angaben der WHO sind 2019 im Vergleich zum selben Zeitraum im Vorjahr in der Region Afrika die Fallzahlen um das Zehnfache gestiegen. In Europa war ein Anstieg um das Doppelte und in den östlichen Mittelmeerländern um das 1,5-Fache zu verzeichnen, wie Luisa Denkel von der Abteilung für Infektionsepidemiologie am Robert-Koch-Institut (RKI) und ihre Kolleginnen im Bundesgesundheitsblatt die Situation zusammenfassen. Dabei bestünde die Möglichkeit, das Virus vollständig zu eradizieren, wie die Autorinnen betonen; zum einen existiert ein sicherer, effektiver und kostengünstiger Impfstoff und zum anderen ist - im Gegensatz zu SARS-CoV-2 - der Mensch der einzige Wirt des Virus.

Es bestünde die Möglichkeit, das Masernvirus vollständig zu eradizieren.

Epidemiologische Situation in Deutschland

Laut Bericht der Nationalen Verifizierungskommission Masern/Röteln (NAVKO) zum Stand der Masernelimination betrug im Jahr 2019 die deutschlandweite Maserninzidenz 5,2 Fälle pro 1 Million Einwohner. Entgegen dem europäischen Trend wurden dem RKI im Jahr 2019 weniger Masernfälle gemeldet als im Vorjahr (514 Fälle im Jahr 2019 vs. 544 Fälle im Jahr 2018). Nordrhein-Westfalen war das Bundesland mit den meisten Fällen (n = 135). Niedersachsen rangierte mit 90 Fällen auf Platz zwei, gefolgt von Bayern (n = 75) und Baden-Württemberg (n = 73).

Von einer Unterbrechung der Transmission ging man in acht Bundesländern aus (Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen), da aus diesen Bundesländern über einen Zeitraum von mindestens vier Monaten keine Masernfälle gemeldet worden waren. Ähnlich deutet das RKI die epidemiologischen Daten aus Sachsen-Anhalt: Zwar überschritt der Zeitraum ohne Masernfälle die Dauer von drei Monaten nicht, doch wurden insgesamt nur fünf Fälle gemeldet.

Den größten Anteil stellte mit 40 % der Masernfälle die Gruppe der 20- bis 39-Jährigen. 26 % der Fälle betrafen Kinder zwischen null und neun Jahren und 10 % Kinder zwischen zehn und 19 Jahren. In der Altersgruppe der Null- bis Neunjährigen entfielen mehr als die Hälfte der gemeldeten Fälle auf Kinder (56 %) bis maximal zwei Jahre, davon wiederum 20 % auf Kinder unter einem Jahr, also auf eine Gruppe, für die die Impfempfehlungen noch nicht gelten und die ein besonders hohes Komplikationsrisiko hat. Der Großteil der Erkrankten (78 %) war ungeimpft.

Strukturelle Hindernisse der Masernbekämpfung

Weltweit die höchsten Inzidenzen sind im Zeitraum vom 1. Juli 2018 bis 30. Juni 2019 in Madagaskar, der Ukraine und in Israel registriert worden. In Madagaskar betrug die Inzidenzrate pro 1 Million Einwohner 6.064,5 Fälle, in der Ukraine 1.917,6 Fälle und in Israel lag sie bei 471,1 Fällen. In Deutschland wurden für denselben Zeitraum 6,8 Masernfälle pro 1 Million Einwohner ausgewiesen. Masernausbrüche sind, wie Denkel und ihre Kolleginnen ausführen, vor allem auf unzureichende Impfquoten zurückzuführen. Die Ursachen dafür seien vielfältig und können struktureller oder psychologischer Natur sein.

Als Beispiel für ein Land, in dem die Masernbekämpfung durch strukturelle Probleme erschwert wird, führen Denkel und Kolleginnen Madagaskar an. Neben bewaffneten Konflikten nach den Wahlen im Dezember 2018, der geografischen Isolation einiger Fälle und der politischen Unsicherheit lähmten auch noch Naturkatastrophen die Bemühungen der Masernbekämpfung. Saisonale Ausbrüche der Pest taten ein Übriges. Diese sogenannten strukturellen Barrieren sind vor allem in fragilen Ländern entscheidend für die geringen Impfquoten, "spielen aber auch in Subpopulationen einkommensstarker Länder mit sehr guten Routineimpfprogrammen eine Rolle", erklären die Autorinnen, etwa bei Romakindern in Serbien.

Doch auch in Ländern mit einem hohen Pro-Kopf-Einkommen und sehr guten Gesundheitssystemen sind immer wieder Masernausbrüche als Zeichen einer unzureichenden Impfquote zu beobachten. Verantwortlich ist eine gewisse Impfskepsis, die die Strategic Advisory Group of Experts (SAGE) der WHO als eine "Verzögerung von Impfungen oder Ablehnung von Impfstoffen, obwohl diese verfügbar wären" definiert hat. Gemäß dem "5C-Modell" sind fünf Faktoren für die Impfentscheidung ausschlaggebend: Confidence, Complaceny, Constraints/Convenience, Calculation und Collective Responsibility.

Mit dem Vertrauen (Confidence) in die Wirksamkeit und Sicherheit der Impfstoffe steigt die Wahrscheinlichkeit einer hohen Impfquote, so Denkel. Doch gerade in Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen vertrauen weniger Menschen auf die Sicherheit der Vakzine. Laut einer Erhebung in über 140 Ländern (Wellcome Trust 2019) stimmten in Nordeuropa nur 75 % der Aussage zu, Impfungen seien sicher. In Nordamerika waren nur 72 % von der Sicherheit überzeugt, in Westeuropa 59 % und in Osteuropa sogar nur 50 %.

Im Falle der Masern ist die fehlende Risikowahrnehmung unter anderem durch den Erfolg des Impfstoffs bedingt.

Ein weiterer Faktor für oder gegen eine Impfung ist, wie hoch das individuelle Risiko der Erkrankung eingeschätzt wird (Complacency), gegen die geimpft werden soll. Im Falle der Masern ist die fehlende Risikowahrnehmung unter anderem durch den Erfolg des Impfstoffs bedingt, wie Denkel erklärt. Schließlich werde bei hohen Durchimpfungsraten die Erkrankung mit ihren Komplikationen kaum noch wahrgenommen.

Die Hürden (Constraints), die es zu überwinden gilt, um ein Impfangebot anzunehmen, beeinflussen die Impfentscheidung ebenfalls. Wichtig sind neben einer leichten Zugänglichkeit ein geringer finanzieller und zeitlicher Aufwand sowie das Überwinden von Sprachbarrieren.

Das Maß der individuellen aktiven Informationssuche (Calculation) darf ebenfalls nicht vernachlässigt werden. Doch Personen, die sich über die Masernimpfung informieren wollen, sehen sich mit einer Fülle von Informationsangeboten konfrontiert. Darunter die seriösen von den nicht seriösen zu unterscheiden, ist nicht immer leicht. Folglich verfügen Personen mit hohen Calculation-Werten laut Denkel häufig "über mehr Falschwissen und eine geringere Impfbereitschaft."

Nicht zuletzt spielt auch das Verantwortungsgefühl gegenüber der Gesellschaft (Collective Responsibility) eine wichtige Rolle. Schließlich darf sich nicht jeder mit dem Lebendimpfstoff impfen lassen. Kontraindiziert ist er beispielsweise für Schwangere und Personen mit bestimmten Immundefiziten. Aber auch für Kinder unter neun Monaten ist die Impfung nicht empfohlen. Diese vulnerable Gruppe ist auf den Gemeinschaftsschutz angewiesen.

Für Kinder unter neun Monaten ist die Masernimpfung nicht empfohlen. Diese vulnerable Gruppe ist auf den Gemeinschaftsschutz angewiesen.

Aktuelle Maßnahmen in Deutschland

Mit Blick auf die weltweit steigenden Masernzahlen und die vielfältigen Ursachen fordern Denkel und ihre Kolleginnen dringend geeignete Gegenmaßnahmen. "Denn das Ziel einer dauerhaften Masernelimination bleibt selbst in einkommensstarken Ländern mit sehr guten Routineimpfungsprogrammen durch Veränderung der Impf-Compliance, anhaltende Transmission in benachbarten Regionen sowie geringe Impfquoten in einigen Subpopulationen eine ständige Herausforderung." In Deutschland hat man auf die steigenden Masernzahlen reagiert und das Infektionsschutzgesetz zum 1. März 2020 geändert. Mit Inkrafttreten des Masernschutzgesetzes müssen alle Kinder beim Eintritt in die Schule oder den Kindergarten die von der STIKO empfohlenen Masernimpfungen vorweisen. Gleiches gilt für Personen, die in Gemeinschafts- oder medizinischen Einrichtungen tätig sind. Auch Asylbewerber und Flüchtlinge müssen den Impfschutz vier Wochen nach Aufnahme in eine Gemeinschaftsunterkunft aufweisen.

Wie wichtig ein vollständiger Impfstatus gerade bei Schulkindern ist, unterstreicht unter anderem eine im Jahr 2019 veröffentlichte Studie aus den USA, die für Kinder im Schulalter hohe Übertragungsraten bestätigte. Der Kinderarzt Professor Tim Niehues vom Helios Klinikum in Krefeld merkte in seinem Kommentar in der Monatszeitschrift Kinderheilkunde zwar an, dass es sich dabei um rein epidemiologische und zum Teil auch unvollständige Daten handele, unterstrich aber die zwingende Notwendigkeit, Kinder vor Eintritt in die Schule zweimal zu impfen.

Säuglinge brauchen besonderen Schutz

Von dem Masernvirus besonders gefährdet sind Säuglinge. Sie dürfen vor dem vollendeten sechsten Lebensmonat nicht geimpft werden, haben aber ein hohes Risiko, infolge einer akuten Maserninfektion eine subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) zu entwickeln. Seit 2017 empfiehlt die STIKO daher für Kinder dieser Altersgruppe als Postexpositionsprophylaxe die intravenöse Gabe von Immunglobulinen (IVIG) in einer Dosierung von 400 mg/kg KG. Mit der nachfolgenden Lebendimpfung sollte dann gemäß STIKO-Empfehlung mindestens acht Monate gewartet werden.

An der Kinderklinik mit Schwerpunkt Pneumologie, Immunologie und Intensivmedizin der Charité Berlin überprüft man im Rahmen einer multizentrischen prospektiven Beobachtungsstudie "WIN - Wann impfen nach IVIG?", ob die Lebendvakzine bereits schon nach vier bis sechs Monaten wirksam ist. Denn "diese Frage ist nicht nur für die wenigen noch ungeimpften Kinder mit Zustand nach IVIG-Gabe wegen einer Masernexposition relevant, sondern auch für die Kinder, die IVIG aus immunmodulatorischen Indikationen vor dem Zeitpunkt der ersten MMR(V)-Impfung erhalten haben", wie der Klinikleiter Professor Horst von Bernutz in der Monatszeitschrift Kinderheilkunde erklärte.

Literatur

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    Denkel L et al. Die globale Masernkrise - Ursachenvielfalt von bewaffneten Konflikten bis Impfskepsis. Bundesgesundheitsbl 2020;63:1445-53

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    Beermann S et al. Weltweit zunehmende Masernfälle sind auch für Deutschland relevant. Bundesgesundheitsbl 2020;63:1443-4

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    Lissel P M. Infektionsschutzrecht nach Inkrafttreten des Masernschutzgesetzes. Pneumologe 2020;17:280-4

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    Niehues T. Was schützt bei Masernausbruch? Monatsschr Kinderheilkd 2020;168:481-2

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    Bühl D et al. Wie schützen wir Säuglinge vor Masern? Monatsschr Kinderheilkd 2020;168:950

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    Zusammenfassender Bericht der Nationalen Verifizierungskommission Masern/Röteln (NAVKO) zum Sachstand des Standes der Elimination in Deutschland 2019; https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/NAVKO/Berichte/Bericht_2019.html;jsessionid=B96CEA35A216900CA3CA2FE866DDECDC.internet111?nn=4985050#doc15349752bodyText6