? Mit Mühe hat Fabian das Klassenziel der 9. Klasse erreicht. Im kommenden Schuljahr steht die Mittlere Reife an. Bei seinen Leistungen ist mehr als fraglich, dass er sie erreicht. Nun ist Nachhilfe in den großen Ferien angedacht. Fabian ist wenig begeistert und kündigt Widerstand an. Die Eltern suchen Rat.

! Prof. Dorsch: Fabians Familie gehört sicher nicht zu den Gewinnern der Coronakrise. Sie bewohnen zu viert eine Dreizimmerwohnung, haben keinen Garten, kein sicheres Einkommen, keine gesicherte Kinderbetreuung. Homeschooling war für alle eine große Belastung, auch emotional. Es gab viele sinnlose Ermahnungen und Streit. Alles soll nun besser werden durch das Aktionsprogramm "Aufholen nach Corona" mit "gezielten Fördermaßnahmen zum Abbau pandemiebedingter Lernrückstände" während der Sommerferien.

Fabian verleiht seinem Unmut in der Praxis mit deutlichen Worten Ausdruck. Den Eltern fällt leider nichts anders ein, als ihn faul und undankbar zu schimpfen. Aber: Man muss ihm Recht geben. Kinder wie Fabian müssten in den Ferien Deutsch, Mathematik und Englisch "nachholen", während ihre besser gestellten Schulkameraden die Ferien genießen könnten. Das erzeugt soziale Konflikte. Bevor man von Kindern wie Fabian zusätzliche Leistungen erwarten kann, müssen ihre emotionalen Ressourcen und ihre Resilienz gestärkt werden. Das kann nicht geschehen, indem man sie zum Nachsitzen verdonnert.

Was alle brauchen, ist Solidarität, Lob und Verständnis statt sozialer Isolation. Es geht nicht ausschließlich um Lücken im Lernstoff. Wichtig wäre, die emotionalen und sozialen Defizite auszugleichen, die zusätzlich entstanden sind. Kindern und Jugendlichen wurde viel abverlangt, sie haben viel geleistet. Mit großer Freude erinnere ich mich an die Steinschlangen, mit denen sie im Sommer 2020 allen Mut machen wollten (www.youtube.com/watch?v=aUlEPwXO310).

Fabian und seinen Eltern habe ich geraten, den geplanten "Nachhilfeunterricht" zu streichen und Fabian notfalls die Klasse wiederholen zu lassen. Auch sonst sollten sie viel Zeit für gemeinsame Aktivitäten nutzen.

! Prof. Zierer: Von den Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie waren besonders Kinder und Jugendliche betroffen. Sie haben nicht nur Lernrückstände, sondern auch Defizite in der psychosozialen und körperlichen Entwicklung. Nachvollziehbar ist daher der Gedanke, ihnen nicht noch mehr zuzumuten. Doch ohne ein Mehr an Einsatz und Anstrengung werden die Rückstände nicht wettzumachen sein. Dies gilt vor allem für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Milieus - sie sind in der Krise mehr als sonst die Verlierer.

Aus pädagogischer Sicht lautet daher die erste Schlussfolgerung: Lasst uns endlich ehrlich sein! Wer mehr Zeit zu Hause vor dem Bildschirm verbringt als mit seinen Schulfreunden, der kann sich weder kognitiv, noch psychosozial oder körperlich normal entwickeln. Deshalb sind Maßnahmen zu ergreifen, die der besonderen Situation nicht mit Normalität begegnen - nach dem Motto: "Jetzt lernt zwei, drei Wochen im Turbo, dann wird alles gut."

Denn das ist zu wenig und wird sogar kontraproduktiv sein. Stattdessen sind Maßnahmen notwendig, die Kinder und Jugendliche in den Mittelpunkt stellen und neben fachlichem Lernen auch Raum für Gemeinschaft und Gefühle, für Austausch und Kooperation, für Spiel und Sport - kurzum: für Freude - ermöglichen. Bildungspolitisch ist das eine große Herausforderung, weil hier der Gestaltungswille der politisch Verantwortlichen gefragt ist und nicht das Handeln des Verwaltungsapparats.

Und was können Familien tun? Freude ist der Motor des Lebens! Sie ist die Folge von gemeinsamen Handlungsräumen, die positive Gefühle bringen. Eltern zu ermutigen, ihre Rolle als Bildungsbegleiter gerade in diesen Zeiten immer und immer wieder anzunehmen, ist aus pädagogischer Sicht wichtig. Wenn diese Haltung auch das Bildungssystem durchflutet, dann werden die Rückstände und Defizite mit einem Lächeln als Herausforderungen zu sehen sein, die von Kindern und Jugendlichen gemeistert wurden.