Rund 70 % der Ärztinnen und Ärzte der Charité, die sich an einer Online-Befragung der Klinik beteiligt haben, berichten von Situationen in ihrem Berufsleben, die sie als sexuelle Grenzverletzung erlebt haben. In den meisten Fällen handelte es sich um verbale Belästigungen. Sie ging mehrheitlich von Kollegen oder Vorgesetzten aus. Stark hierarchische Strukturen scheinen solchen Vorfällen Vorschub zu leisten.

Der anonyme Online-Fragebogen wurde von 448 Ärztinnen und 289 Ärzten beantwortet; das entsprach einer Teilnahmequote von 42 %. 76 % der Frauen und 62 % der Männer gaben an, im Lauf ihres Berufslebens irgendeine Form von Belästigung erfahren zu haben. Die häufigste Form solchen Fehlverhaltens waren verbale Grenzüberschreitungen wie abwertende Sprache in 62 % und anzügliche Sprüche in 25 % der Fälle. Weitere häufig berichtete Grenzverletzungen waren unerwünschter Körperkontakt (17 %), Geschichten mit sexuellem Inhalt (15 %), Nachpfeifen und Anstarren (13 %). Ebenfalls genannt wurden sexuelle Angebote/unerwünschte Einladungen (7 %), Belästigung in schriftlicher oder Bildform (6 %), Grapschen oder versuchtes Küssen (2 %), Vorteile für sexuelle Gefälligkeiten (1,5 %) sowie sexuelle Übergriffe (0,5 %).

Nichtphysische Grenzüberschreitungen wurden von 76 % der Betroffenen als Belästigung wahrgenommen. Bei den physischen Übergriffen traf dies zu 89 % zu, von 28 % der Opfer wurden sie als bedrohlich erlebt.

Bei den Ärztinnen ging die Belästigung fast ausschließlich von Männern aus (85% der nichtkörperlichen und 95 % der körperlichen Grenzverletzungen), bei den Ärzten überwiegend von Frauen (62 % bzw. 87 %). In den meisten Fällen und bei Ärztinnen und Ärzten vergleichbar häufig waren die Täter Kollegen (71 % bzw. 80 %), Frauen waren aber deutlich öfter Opfer von Grenzüberschreitungen durch Vorgesetzte (37 % vs. 18 %). Als einziger struktureller Risikofaktor für sexuelle Belästigung erwies sich eine starke Hierarchie in der Abteilung.

Die hohe Zahl von Ärztinnen und Ärzten, die mit Belästigung am Arbeitsplatz Erfahrung gemacht haben, hat die Erstautorin der Studie, Sabine Jenner, „wenig überrascht“, wie es in einer Pressemitteilung der Charité heißt. Laut Jenner, die auch dezentrale Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte an der Charité ist, wird durch internationale Studien zu dem Thema ebenfalls eine „Sonderstellung“ des medizinischen Arbeitsumfeldes nahegelegt. An der Charité gibt es schon seit 2016 zahlreiche Präventionsmaßnahmen gegen sexuelle Grenzverletzungen am Arbeitsplatz, inklusive einer Richtlinie und einem Programm zur anonymen Meldung von Verdachtsfällen.