Derzeit wird eine aktualisierte Leitlinie zu Kindesmisshandlung, -missbrauch und -vernachlässigung (Kinderschutzleitlinie) auf den Weg gebracht. Dr. Bernd Herrmann von der Kinderklinik Kassel kommentierte und ergänzte die darin enthaltenen Empfehlungen zur Diagnose von sexuellem Kindesmissbrauch anhand seiner langjährigen Erfahrung.

Beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch sollen gemäß der neuen Leitlinie alle Kinder und Jugendlichen „geschlechts- und entwicklungsspezifisch untersucht werden“. Herrmann gab zu bedenken, dass die Wahrscheinlichkeit auffälliger Befunde sehr stark damit korreliert, was vorgefallen ist. „Ein Kind, das pornografisch missbraucht wurde, weist keine körperlichen Spuren auf und bei einem Kind, das unangemessen an der Brust berührt wurde, finden sich keine Spermaspuren.“ Ein normaler körperlicher Befund ist daher häufig und schließt sexuellen Missbrauch nicht aus — zumal anogenitale Verletzungen schnell und meist vollständig verheilen.

Laut Leitlinie stellt die Zustimmung der Kinder und Jugendlichen die Voraussetzung für die Untersuchung dar. „Eine Untersuchung darf keinesfalls erzwungen werden, vielmehr sollte man im Zweifel darauf verzichten“, bekräftigte Herrmann. Er berichtete, dass manche Kinder testen, ob ihre Weigerung akzeptiert wird — was der Täter nie getan hat. Wenn sie sich von der Ehrlichkeit des Arztes überzeugt haben, kommen sie nach einigen Tagen wieder. Die Botschaft: „du bist gesund“ ist sehr wichtig, so Herrmann, denn sie kann auch eine Weichenstellung für eine seelische Gesundung sein. Nach Ansicht Herrmanns beschreibt die Leitlinie erstmals ein sinnvolles und gut untermauertes Vorgehen. Dennoch sollte man überprüfen und gegebenenfalls hinterfragen, ob die Empfehlungen im Einzelfall sinnvoll und anwendbar sind.

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