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Kinder und Jugendliche, die sich ohne suizidale Absicht innerhalb eines Jahres an mindestens fünf Tagen selbst einen Schaden an ihrem Körpergewebe zufügen, zeigen laut Definition ein nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV). Wir sprachen mit dem Kinder- und Jugendpsychiater und Koordinator der neuen Leitlinie, PD Dr. Paul Plener, Mannheim, wie die Patienten in der pädiatrischen Praxis auffallen.
? Was sind die häufigsten Formen von Selbstverletzungen?
Plener: Die häufigsten Formen sind Schneiden oder Ritzen, meist an den Unterarmen, im Knöchelbereich oder an den Oberschenkeln. Auch Verbrennungen kommen öfter vor, und mitunter wird auf einen Gegenstand eingeschlagen, bis man blutet. Je nach Studie bejahen ein Viertel bis ein Drittel aller Jugendlichen der Allgemeinbevölkerung in Deutschland ein selbstverletzendes Verhalten in der Vergangenheit, zumindest einmalig. Fragt man nach aktuell vorhandenen wiederholten Selbstverletzungen, sind etwa 4–6 % betroffen.
? Liegt immer eine psychische Störung zugrunde?
Plener: Es gibt Jugendliche, die probieren das ein-, zweimal aus, merken, dass es nichts für sie ist, und lassen es dann wieder. Hier würde man nicht davon ausgehen, dass psychische Krankheiten dahinterstecken. Wenn sich Leute aber repetitiv verletzen, haben wir im Jugendalter vorwiegend depressive Erkrankungen und Angststörungen als begleitende Komorbiditäten. Es gibt auch einen sehr kleinen Prozentsatz von Jugendlichen, bei denen man keine psychische Komorbidität feststellen kann.
? Was wird mit der Selbstverletzung erreicht?
Plener: Es funktioniert offensichtlich relativ gut, damit emotional aversive Gefühlslagen für den Moment zu beenden. Wenn sich der Jugendliche angespannt oder schlecht fühlt und sich selbst verletzt, verschwindet das negative Gefühl. Durch die neurobiologische Forschung verstehen wir immer besser, dass Menschen, die sich selbst verletzen, Veränderungen in Gehirnregionen zeigen, die mit Emotionsregulation zu tun haben.
? Welches Alter ist typisch?
Plener: Typischerweise beginnen Selbstverletzungen um das 12. Lebensjahr. Etwa mit 16 oder 17 Jahren ist ein Höhepunkt erreicht, und zum 18. Lebensjahr hin hören sehr viele dann auf, sich selbst zu verletzen.
? Sind Risikofaktoren bekannt, die selbstverletzendes Verhalten fördern?
Plener: Es gibt den Effekt der „sozialen Ansteckung“. Das Miterleben von Selbstverletzungen stellt einen bedeutenden Risikofaktor dar. Was uns derzeit große Sorgen bereitet, ist, dass soziale Ansteckung nicht nur im realen Leben passiert, sondern auch über soziale Netzwerke und über Bilder und Kommentarfunktionen weitergetragen wird. Außerdem finden wir selbstverletzendes Verhalten gehäuft bei bestimmten Jugendkulturen wie Gothic und Emo. Diejenigen, die sich besonders mit diesen Jugendkulturen identifizieren, haben höhere Raten an Selbstverletzungen und im Übrigen auch höhere Raten an Suizidversuchen und Suizidgedanken. Eine Studie aus dem letzten Jahr hat gezeigt, dass Leute, die sich mit 14 Jahren mit der Gothic-Jugendkultur identifizieren, mit 18 ein erhöhtes Risiko für Suizidversuche und -gedanken und selbstverletzendes Verhalten haben. Aber auch Mobbing-Erfahrungen spielen eine riesige Rolle. Deutschen Studien zufolge verzwölffacht sich bei häufig gemobbten Jugendlichen das Risiko, sich selbst zu verletzen.
? Wie fallen NSSV-Patienten in der pädiatrischen Praxis auf?
Plener: Auf typische Narben wird man ja bei der körperlichen Untersuchung aufmerksam. Auch Schnittmuster, für die es kein plausibles Erklärungsmodell gibt, sind auffällig. Abgesehen davon sollten geschilderte depressive sowie Angstsymptome den Arzt hellhörig machen.
? Was soll der Pädiater tun, wenn er den Verdacht auf Selbstverletzungen hegt?
Plener: Eine gute Möglichkeit, damit umzugehen, ist die „respektvolle Neugier“. Auf jeden Fall soll er den Patienten auf das ansprechen, was er gesehen hat. Ein guter Einstieg ist die Frage: „Wobei hilft es dir?“ Damit wird ein Signal gesetzt, dass es hier nicht um Provokation oder Auffallen-wollen geht. Für viele Jugendliche, die Zurückweisung erlebt haben oder sich nicht trauen, darüber zu sprechen, ist das ein guter Türöffner. Im Hinblick auf das erhöhte Suizidrisiko dieser Jugendlichen wäre es angebracht zu fragen, ob schon einmal Gedanken an Suizid bestanden haben. Ob eine Überweisung an einen Kinder- und Jugendpsychiater oder -psychotherapeuten nötig ist, liegt im Ermessen des ärztlichen Kollegen, indem er ein Gefühl für die Häufigkeit und Akuität der Situation entwickelt.
! Vielen Dank, Herr Dr. Plener.
Das Interview führte Dr. Christine Starostzik.
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Springer Medizin. Schnitte als Botschafter von Angst. Pädiatrie 28, 47 (2016). https://doi.org/10.1007/s15014-016-0757-0
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