Für viele in der Praxis und der Klinik tätige Gynäkologeninnen und Gynäkologen war die Molekulargenetik lange Zeit irgendein abgehobenes Thema, das höchstens in wissenschaftlichen Laboratorien und in Universitätsklinika Relevanz hatte, und der Cancer Genome Atlas ein Buch mit sieben Siegeln. Die "Zeitenwende", das von der Politik eingeführte Wort des Jahres 2022, hat auf eine ganz andere Weise nun auch das am häufigsten auftretende Genitalmalignom der Frau und damit die gynäkologische Onkologie erreicht: Die Molekulargenetik ist in der Klinik angekommen.

Wurden die Therapieentscheidungen beim Endometriumkarzinom bislang aufgrund morphologischer Kriterien und Tumorstadien getroffen, so wurden jetzt in der aktuellen S3-Leitlinie zur Therapie des Endometriumkarzinoms vier Klassen von Subtypen molekulargenetisch definiert, mit denen es möglich ist, die Prognose und die notwendige Therapie deutlich exakter zu bestimmen als zuvor. Nicht mehr die Ausbreitung des Karzinoms und der Umfang der myometranen Infiltration definieren das operative Vorgehen und die Notwendigkeit einer Nachbehandlung, sondern die molekulargenetische Typisierung, mit der nicht nur die Prognose, sondern auch die Indikation für adjuvante Therapiemaßnahmen festgelegt werden kann. Da diese Informationen im Regelfall auch bereits am Abradat vorliegen muss, betrifft diese Empfehlung zur molekularen Analyse alle, die sich mit der Diagnose und Behandlung des Endometriumkarzinoms beschäftigen. Konkret: Wer ein Abradat histopathologisch untersucht, muss es auch molekulargenetisch analysieren können, wer abradiert, muss auch die späteren molekulargenetischen Informationen interpretieren können. In dem Beitrag von Günter Emons zur aktualisierten S3-Leitlinie des Endometriumkarzinoms (S. 20) gibt es noch weitere Überraschungen zu verzeichnen: Eine Immuntherapie mit einem Immuncheckpointinhibitor ist besser als eine Chemotherapie und eine Blutung in der Postmenopause muss nicht zwingend invasiv abgeklärt werden - das bedeutet schon eine Änderung der bislang üblichen Vorgehensweise.

Neben der Etablierung der Molekulargenetik kommt nun noch ein weiteres Novum in der Praxis an, dass bislang vorzugsweise in spezialisierten Zentren betreut wurde: die Versorgung der älteren Frau mit Kinderwunsch oder Schwangerschaft. Eine in den letzten Jahren immer wieder zu beobachtende Veränderung der Lebensplanung auf der einen Seite und die Erfolge der Reproduktionsmedizin auf der anderen Seite haben dazu geführt, dass viele Frauen ihre Familienplanung in ein Alter verschieben, in dem wir bislang von baldiger Infertilität ausgingen. Welche Konsequenz diese Entwicklung in der Praxis aus reproduktionsmedizinischer und geburtshilflicher Sicht hat, stellt Maximilian Franz in seinem Beitrag dar (S. 28).

Die Gynäkologie und Geburtshilfe ist und bleibt weiterhin ein dynamisches Fach. Gemeinsam mit unseren Autoren halten wir Sie über diese Entwicklungen auf dem Laufenden.

Ihr

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Prof. Dr. med. Peter Mallmann

Direktor der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Universitätskliniku Köln