Man Ray hieß auch eigentlich nicht Man Ray. Sein richtiger Name lautete Emmanuel („Manny“) Radnitzky. Als solcher wurde er 1890 als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer in Philadelphia geboren. 1897 zog er mit seiner Familie nach New York, wo diese sich später in Ray umbenannte, um ihren jüdischen Namen zu amerikanisieren. Im Alter von 18 Jahren schrieb sich der junge talentierte Mann an gleich zwei Kunsthochschulen in New York ein, denn schon früh stand für ihn fest, dass er Künstler werden wollte. Dann tat er noch zwei weitere entscheidende Dinge: Er kaufte sich eine Kamera und legte sich den Künstlernamen Man Ray zu. Viel Erfolg hatte er zunächst mit beidem nicht.

Dieser stellte sich erst ein, als Man Ray 1921 von New York in die damalige Welthauptstadt der Kunst zog, nach Paris. Dort lebte in den Zwanzigerjahren so ziemlich alles, was in der Malerei Rang und Namen hatte. Picasso, Matisse, Salvador Dali und Juan Miró begründeten in der französischen Hauptstadt die europäische Moderne und zelebrierten in den Cafés und Nachtklubs der Rive Gauche ihr Bohème-Leben. Sich von Man Ray fotoporträtieren zu lassen gehörte für sie schon bald zum guten Ton.

Noch lieber als seine Künstlerkollegen fotografierte Man Ray aber hübsche Frauen, die er nicht nur als Modelle schätzte. 1922 fand er in der schönen Kiki de Montparnasse, bürgerlich Alice Prin, seine Muse und Geliebte. Die Künstlerin, Sängerin und Szenegröße eines Pariser Nachtklubs verewigte Man Ray in zahlreichen Fotografien, darunter gleich zwei seiner bekanntesten.

In „Noire et Blanche“ setzte er ihr apartes Gesicht neben eine afrikanische Maske. In „Le Violon d’Ingres“ fotografierte er ihre nicht minder aparte Rückenansicht. Dabei zitiert Man Ray die bekannten Rückenakte des französischen Klassizisten Ingres. Man Ray greift aber nicht nur ein klassisches Motiv der Kunstgeschichte mit den Mitteln der Fotografie auf, sondern geht noch einen entscheidenden Schritt weiter. In einer frühen Form der Bildbearbeitung versieht er das Foto nachträglich mit zwei Geigenöffnungen und verwandelt damit den menschlichen Körper künstlerisch in ein Musikinstrument.

Wie raffiniert diese Komposition ist, lässt sich daran erkennen, mit welchem Geschick er sein Modell in Szene setzt. Kiki de Montparnasse hält ihre Arme so weit nach vorne gestreckt, dass sie nicht im Bild erscheinen und somit auch nicht von ihrem perfekten (Violinen-)Körper ablenken.

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Le Violon d’Ingres von 1924

© Man Ray Trust, Paris/ VG Bild-Kunst, Bonn 2018 - Peter Horree / Alamy / mauritius images

Spätestens hier beantwortet sich die Frage nach dem Stellenwert der Fotografie im Kanon der Kunst. „Le Violon d’Ingres“ gilt heute als ein Schlüsselwerk des Surrealismus, das keinen Vergleich mit irgendeinem auf Leinwand gemalten Werk scheuen muss. Dadurch wurde es zu einer Ikone der Moderne. Man Ray, jener unermüdliche Wanderer im grenzenlosen Reich der Kreativität, hat die Fotografie damit endgültig zur Kunst erhoben.