Über die genaue Beziehung zwischen Goethe und Frau von Stein rätselt die Literaturwissenschaft seit 250 Jahren. Eugen Roth hat das Problem in einem charmanten Vierzeiler auf den Punkt gebracht:

„Ungern leuchten wir hinein In die Affäre Frau von Stein Wo sich die Welt den Kopf zerbricht Hat er nun oder hat er nicht?“

Die meisten Goetheforscher sind sich inzwischen einig: Er hat nicht. Also zumindest nicht körperlich. Zum einen wäre es an dem kleinen Weimarer Hof, wo jeder jeden genau kannte und mit Argusaugen beobachtete, wohl unmöglich gewesen, ein ehebrecherisches Verhältnis über Jahre hinweg geheim zu halten. Zum anderen gibt auch Goethes Zeichnung selbst Auskunft über das Verhältnis. Er stellt Frau von Stein als Hofdame im klassischen Stil dar: schön, edel und unerreichbar. Weniger positiv ausgedrückt könnte man auch behaupten: Sie wirkt ein wenig unterkühlt, um nicht zu sagen lieblos. Das mag durchaus daran liegen, dass Goethe als Zeichner nicht unbedingt die Möglichkeiten zur Verfügung standen, differenziertere Gefühle darzustellen. Es kann aber auch einen anderen Grund haben: Vielleicht war Frau von Stein wirklich so.

Kurz zur Erinnerung: 1775 kam Goethe an den Hof von Weimar, wo gerade der junge Herzog Karl August sein Amt angetreten hatte. Goethe war damals 26, hatte soeben mit „Werthers Leiden“ einen Sensationserfolg gelandet und galt als ziemlich verlottertes Genie. In Weimar begegnete er dann jener Frau, die das gründlich ändern sollte. Sie war sieben Jahre älter, ehemalige Hofdame, nunmehr verheiratete Frau von Stein und machte es sich zur Aufgabe, den etwas grobianischen Stürmer und Dränger zu kultivieren. Goethe ließ sich das gerne gefallen, und zumindest platonisch scheint es zwischen den beiden auch ziemlich gefunkt zu haben. Rund 1700 Briefe Goethes an Frau von Stein sind erhalten. Gut ausgegangen ist die Sache trotzdem nicht. Goethe wurde es in Weimar zu eng und er floh nach Italien. Einige Biographen sind der Meinung, dass es auch eine Flucht aus der aussichtlosen Beziehung zu Frau von Stein war.

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Charlotte von Stein, 1777, Kreidezeichnung, Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Als Goethe nach rund zwei Jahren seiner „Italienischen Reise“ nach Weimar zurückkehrte, war er ein anderer. Frau von Stein — durch die lange und unabgesprochene Abwesenheit ohnehin zutiefst gekränkt — ließ ihre Umgebung wissen: „Goethe ist sinnlich geworden.“ Ein vernichtenderes Urteil konnte eine Hofdame wie sie kaum fällen. Wie sehr das Urteil zutraf, stellte Goethe dann unmittelbar nach seiner Rückkehr unter Beweis. Er verliebte sich in ein 23-jähriges Mädchen aus dem Volke. Christiane Vulpius arbeitete in einer Fabrik, nähte Seidenblumen, war fröhlich, ungebildet, ein wenig pummelig und ging gerne tanzen. Für den Weimarer Hof war das die allerunterste Kiste. Goethe allerdings machte Christiane Vulpius umgehend zu seinem „Bettschatz“ und später auch zu seiner Ehefrau. Fast hat man den Eindruck, er habe bewusst eine Art Gegenbild zu Frau von Stein gesucht und gefunden. Die neuenddeckte Sinnlichkeit feierte das ungleiche Paar (Christinane Vulpius hat ihr ganzes Leben lang kein Buch von Goethe gelesen) vor allem im Gartenhaus vor der Stadt. Da störte es die gute Gesellschaft nicht so sehr. Goethe seinerseits kümmerte sich um den Tratsch sympathischerweise auch nicht — und ließ der Hofgesellschaft den Zweizeiler zukommen:

„Uns aber ergötzte die Freude des echten nackerten Amors und des geschaukelten Bettes lieblicher knarrender Ton.“

Als Dichter war Goethe dann einfach doch noch eine Klasse besser denn als Zeichner.