Deutet man die Haut als natürliche Hülle und Begrenzung unseres Körpers, so setzt die international erfolgreiche Künstlerin Marina Abramović scheinbar alles daran, diese Grenze im Rahmen ihrer Performances zu überschreiten.

Ihr Debüt gab die 1946 in Belgrad geborene Marina Abramović im Jahr 1973 auf einem Festival in Edinburgh. Der Titel ihrer Performance, "Rhythm 10", verweist auf zehn Messer, die neben einem Blatt Papier und zwei Kassettenrekordern zum Einsatz kommen. Den Ablauf beschreibt die Künstlerin wie folgt:

"Ich schalte den ersten Kassettenrekorder ein. Ich nehme das erste Messer und steche, so schnell ich kann, zwischen meine ausgespreizten Finger der linken Hand. Jedes Mal wenn ich mich schneide, wechsle ich das Messer. Wenn alle Messer gebraucht sind (alle Rhythmen), spule ich das Band zurück. Ich höre mir die Aufnahme der ersten Performance an. Ich konzentriere mich. Ich wiederhole den ersten Teil der Performance. Ich nehme die Messer in der gleichen Reihenfolge, verfolge den gleichen Rhythmus und schneide mich an der gleichen Stelle (…)."

Gewalt gegen sich selbst

Gewalt gegen sich selbst spielt in vielen weiteren Werken Abramovićs eine große Rolle. 1975 wurde ihre Performance "Lips of Thomas" in der Galerie Krinzinger in Innsbruck uraufgeführt. Nachdem die Künstlerin zunächst einen Kilo Honig und einen Liter Wein zu sich genommen hat, ritzt sie sich ein Pentagramm in den Bauch, geißelt sich mit einer Peitsche und legt sich nackt auf ein Kreuz aus Eisblöcken, über dem ein Heizstrahler angebracht ist. Die Performance sollte enden, nachdem der Heizstrahler das Eis zum Schmelzen gebracht hätte. Auf Drängen besorgter Besucher wurde die Performance jedoch abgebrochen und Abramović fortgetragen. Bei einer erneuten Aufführung im Jahr 2005 in New York wurde nicht abgebrochen.

figure 1

© Christoph Hardt / Geisler-Fotopress / picture alliance

In ihrer Performance "Rhythm 10" (erste Version 1973) legte die damals 26-jährige Marina Abramovićs ihre linke Hand auf ein weißes Blatt Papier und stach - so schnell sie konnte - mit zehn verschiedenen Messern zwischen ihre ausgespreitzen Finger.

Grenzerfahrungen

"Es gibt kein logisches Ende im Umgang mit Schmerz", bemerkt Abramović im Hinblick auf die Performance. "Ich kreiere eine Struktur, in der ich weit an die physischen Grenzen des Körpers gehen kann. Ich will nicht sterben. Das ist nicht die Absicht. Ich will die Grenze erfahren und wie viel ich bis zu dieser Grenze ertragen kann."

Abramović und viele andere Akteure der Körperkunst in den 1970er-Jahren wurden häufig als Masochisten und Exhibitionisten wahrgenommen. Für Abramović war Schmerz jedoch ein Mittel zur Bewusstseinsfindung, ein Weg zu unverfälschter Erfahrung. Allerdings war es nicht der einzige Weg.

Beobachter wird zum Akteur

Eine innige Liebesbeziehung verband Abramović viele Jahre lang mit dem deutschen Künstler Ulay, mit dem sie auch gemeinsame Performances absolvierte: "Relation in Space" wurde 1976 auf der Biennale in Venedig aufgeführt: Beide laufen immer wieder nackt aufeinander zu, lassen ihre Körper gegeneinanderprallen und nehmen die Geräusche - das Klatschen von Haut auf Haut - auf. "Wir waren verliebt, und das Publikum spürte das genau", sagte Abramović später. "Aber natürlich wussten die Leute sonst nichts über unsere Beziehung, sodass jeder alles Mögliche auf uns projizieren konnte. (...) Ist das Ausdruck von Feindseligkeit? Von Liebe? Von Gnade?"

Im Rahmen von "Imponderabilia" (1977) stehen sich Abramović und Ulay nackt im schmalen Eingang der Galleria d'Arte Moderna in Bologna gegenüber, sodass die Besucher sich zwischen ihnen hindurchzwängen müssen. Ein normales Hindurchgehen bedeutet intensiven Körperkontakt mit beiden Künstlern, ein seitliches Hindurchschieben minimiert die Berührung - die sich trotzdem nicht völlig vermeiden lässt -, erfordert aber eine Entscheidung, welchem der beiden Künstler man sich zuwendet, und ob man Blickkontakt sucht oder nicht. "Passive" Beobachter und Kunstkonsumenten werden hier unvermutet selbst zu Akteuren. Auch sie werden dazu ermutigt, eine - vermeintliche - Grenze zu überschreiten.

Zum Weiterlesen: Marina Abramović, Durch Mauern gehen, Luchterhand Literaturverlag, 2016, 480 Seiten, 28,00 €