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Shannon: Das Gesicht hinter Gazeschleiern, Rachegedanken im Hinterkopf.

© Vizerskaya / Getty Images / iStock (Symbolbild mit Fotomodell

Evies luxuriöses Anwesen steht in Flammen. Evie selbst steht in ihrem verkohlten Hochzeitskleid am oberen Ende der Treppe, hält ein Gewehr in Händen. Am unteren Ende der Treppe steht Shannon: Ehemals Modell, wie Evie. Ehemals beste Freundin von Evie. Jetzt Brandstifterin. Die Ich-Erzählerin.

Der Roman „Fratze“ enthüllt in scheinbar willkürlichen Zeitsprüngen ihre Geschichte. Man erfährt, dass sie eines Tages in die Notaufnahme wankt, nachdem ihr der Unterkiefer weggeschossen wurde. „Vögel haben mein Gesicht gefressen“ würde sie jedem erzählen, der nach ihrem Unfall fragt. Niemand fragte sie. Die Ärzte zeigen nur fachliches Interesse, empfehlen ihr die neuesten medizinischen Rekonstruktionsmethoden. Hauttransplantationen. Die Bildung eines Stiellappens, um einen Kiefer zu formen. Transplantation von Teilen des Darmes, um die Speiseröhre nachzubilden.

Shannon lehnt alles ab. Sie hat keinen Beruf mehr, ihr Verlobter hat Schluss gemacht, ihr eigenes Gesicht ist ihr fremd, da ist nichts mehr von der ehemals makellosen Haut: „Wer mein kaputtes, nur noch aus Narben bestehendes Gesicht berührt, für den fühlt sich das an wie Fetzen von Orangenschale und Leder.“

Wie ein Auto

In der Klinik trifft Shannon auf Brandy Alexander — das schönste Wesen, dem sie je begegnet ist. Brandy weiß Rat: „Es hilft zu wissen, dass du für dein Aussehen ebenso wenig verantwortlich bist wie ein Auto.“ Shannon solle sich wie ein Ding betrachten, „das von vielen Leuten hergestellt wurde, aber nicht für die Ewigkeit.“ So findet Shannon die Kraft, neu anzufangen. Gemeinsam mit Brandy nimmt sie ihren ehemaligen Verlobten Manus als Geisel. Ihr entstelltes Gesicht hinter meterlangen Gazeschleiern verborgen, zieht sie mit ihnen durchs Land. Vordergründig mit Medikamentendiebstahl beschäftigt, hat sie Rachegedanken im Hinterkopf. Hatte ihr Verlobter auf sie geschossen, weil er sich ihrer aufgrund einer Affäre mit Evie entledigen wollte? Oder wollte diese sie als Konkurrentin aus dem Weg räumen?

In einer Welt, in der vermeintlich alles von dem Bild abhängt, das man in der Öffentlichkeit abgibt, ist niemand der, der er zu sein scheint: Shannon stellt plötzlich fest, dass „Queen“ Brandy Alexander niemand anderer ist als ihr totgeglaubter Bruder. Von ihren Eltern war sie stets dafür verantwortlich gemacht worden, dass die Explosion einer Flasche Haarspray das Gesicht ihres Bruders Shane entstellt hatte. Nachdem sein Vater Shane der Homosexualität bezichtigt hatte, war dieser dann weggelaufen — und irgendwann hatte ein anonymer Anrufer mitgeteilt, dass Shane an Aids gestorben sei. Nun, unzählige Operationen später, erinnert sein Äußeres an das seiner Schwester vor dem Unfall. Evie hält Shane (alias Brandy) darum für Shannon, zielt mit dem Gewehr auf sein Herz und drückt ab.

Vom Wunsch, sich zu spüren

Die Kugel verfehlt das Herz, doch Shane blutet stark. In Todesangst verrät er Shannon, dass er selbst damals die Haarspraydose zur Explosion gebracht hatte, um Aufmerksamkeit zu erlangen. „Ich war so unglücklich, ein normales Durchschnittskind zu sein. Ich habe nach Erlösung gesucht. Ich wollte das Gegenteil eines Wunders.“ Shannon steht ihm da in nichts nach: Sie selbst war es, die sich den Kiefer weggeschossen hat. „Ich war süchtig danach, schön zu sein. Süchtig nach all dieser Aufmerksamkeit, konnte nur ein kalter Entzug mir helfen.“ Sie war es leid, Anerkennung und Aufmerksamkeit zu ernten, ohne jemals wirklich etwas zu leisten. Ein drastischer Schritt sollte ihrem Leben mehr Tiefe geben. „Es musste doch möglich sein, auf einen Schlag hässlich zu werden. Um mich zu retten, musste ich den größten Fehler machen, den ich mir denken konnte.“ Hat es sich gelohnt? „Die Wahrheit ist: Hässlich sein ist nicht so aufregend, wie man meinen könnte, aber es kann eine Möglichkeit sein zu etwas, das noch besser ist, als ich mir je vorgestellt hatte. Die Wahrheit ist, es tut mir leid.“