Während eines längeren Aufenthalts in der Residenzstadt „...n“ bemerkte Theodor ein Haus, das nicht nur auffallend ärmlich, sondern auch unbewohnt schien. Angeblich befand sich darin die Zuckerbäckerei des benachbarten Konditors — doch trotz dieser banalen Erklärung übte das Gebäude eine seltsame Faszination auf Theodor aus. Eines Tages sieht er hinter einem der Fenster „die blendend weiße, schön geformte Hand eines Frauenzimmers, (…) ein reiches Band blitzte an dem in üppiger Schönheit gerundeten Arm.“ Wie vor den Kopf gestoßen sucht Theodor den Konditor auf. Der ist mitnichten der Besitzer des Hauses, berichtet aber von seltsamen Vorgängen: So höre man zur Nachtzeit tiefes Seufzen und dumpfes Lachen aus dem benachbarten Gemäuer, sowie offenbar den Gesang eines alten Weibes.

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Frau am Fenster: Wahn oder Wirklichkeit?

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Diese Schilderung passt so gar nicht zum Bild des blühenden jungen Mädchens, das sich Theodor von der mysteriösen Bewohnerin gemacht hat. Tagelang umstreift er das Haus — da plötzlich sieht er einen Vorhang aufgezogen: „Gestützt auf den Arm, blickte mich wehmütig flehend jenes Antlitz meiner Vision an. (…) Sie war es, das anmutige, holdselige Mädchen (…) !“

Von einer Bank aus beobachtet er mithilfe eines Taschenspiegels das Fenster in seinem Rücken. Dadurch zieht er die Aufmerksamkeit eines Passanten auf sich, dem er von seinem Erlebnis erzählt. Die Erscheinung, erwidert der, sei nichts als ein gut gemaltes Ölbild, das eben wieder aus dem Fenster entfernt würde. Als Theodor sich umwendet, ist die Erscheinung verschwunden.

Doch als er eines Tages seinen Taschenspiegel anhaucht, um ihn zu reinigen, zeigt sich darin das Bildnis des Mädchens, schöner als je zuvor. Theodor zweifelt an seiner geistigen Gesundheit. Eines Abends wird er von solch rasender Leidenschaft gepackt, dass er sich mit Gewalt Zutritt zu dem öden Haus verschafft — er findet sich in einem von Kerzenlicht erhellten Saal wieder, in dem Räucherwerk brennt. Aus dem Nebel scheint die anmutige Gestalt hervorzutreten: „Mit dem wiederholten gellenden Ruf: ‚Willkommen, süßer Bräutigam!‘ trat sie mit ausgebreiteten Armen mir entgegen — und ein gelbes, von Alter und Wahnsinn gräßlich verzerrtes Antlitz starrte mir in die Augen. (…) Sie trat näher, da schien es mir, als sei das scheußliche Gesicht nur eine Maske von dünnem Flor, durch den die Züge jenes holden Spiegelbildes durchblickten.“

Projektionsfläche des Begehrens

Um Interesse zu wecken oder erotische Wirkung zu erzielen, bedarf es häufig nur Andeutungen. Im Zusammenhang mit der bereits geheimnisvoll aufgeladenen Aura des öden Hauses genügt Theodor die „blendend weiße, schön geformte Hand“ und ein „in üppiger Schönheit“ gerundeter Arm, um seine Leidenschaft zu entfachen. Nachdem der Verliebte tagelang das Haus belauert hat, sieht er tatsächlich das Gesicht einer jungen Frau — oder ist es nur ein Ölgemälde? Auch in dieser Erzählung E.T.A. Hoffmanns ist die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit nicht immer klar. Aber es ist durchaus glaubhaft, dass Theodors Zustand es erlaubt, ein gemaltes Bild seiner Angebeteten mit Leben zu füllen, sodass die Leinwand sich zu von Blut durchflossener Haut wandelt — ebenso, wie der Spiegel, dem er buchstäblich „Leben einhaucht“.

Als er mit Gewalt die Auflösung der quälenden Situation erzwingen will, sieht er sich der abstoßenden Fratze einer wahnsinnigen alten Frau gegenüber. Doch selbst dieses Gesicht scheint ihm zunächst nur eine Haut zu sein, die die darunterliegende Schönheit der jungen Frau verhüllt.

Dass er damit nicht ganz falsch liegt, zeigt schließlich die Aufklärung der Geschichte rund um das öde Haus, in der verschmähte Liebe, Wahnsinn, und das Unheimliche ihren Platz haben. Theodor aber ist forthin von seiner Sehnsucht geheilt — selbst als er bei einer Abendgesellschaft in seiner jungen Tischnachbarin die exakten Züge seiner unheilvollen Vision wiedererkennt.