Moderne digitale Datenmessung gilt in der geriatrischen Versorgung noch als Kuriosum. Das ist ein blinder Fleck: Mithilfe der Digitalisierung könnte die Sterblichkeit älterer Menschen um mehr als 20% gesenkt und viele Symptome verbessert werden. Packen wir es an!

Bei wie vielen Ihrer Patienten lassen Sie sich Schrittwerte, Gehstrecke, Gangzeit und Gehtempo zeigen, wenn diese Daten auf dem Fitnesstracker oder Smartphone aufgezeichnet wurden?

Mit Smartwatches und neuen Apps kann es schon heute gelingen, die Lebensqualität hochaltriger Menschen deutlich zu verbessern. Weitere Entwicklungen können zu einer grundlegenden Verbesserung des geriatrischen Assessments führen und so Diagnostik, Therapie und Prävention in der Altersmedizin bereichern. Es ist allerdings mit handelsüblichen Schrittmessern und Apps noch nicht getan. Die neuesten Messgeräte mit hochsensiblen Sensoren, die auch in der Geriatrie evaluiert sind, sind wesentlich genauer.

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© Yelizaveta Tomashevska / Getty Images / iStock (Symbolbild mit Fotomodell)

Smartwatches und Apps sind heute schon im Einsatz.

Mithilfe solcher Technik können wir die vier wichtigsten Parameter zur Mobilität genau vermessen und auswerten: das Gehtempo im Außenbereich, die Schrittlänge, die tägliche Gehstrecke und die maximale Gehstrecke ohne Stehenbleiben. Wenn wir das Gehvolumen im ambulanten und stationären Bereich somit genau auswerten, dann können wir Patientinnen und Patienten personalisierter versorgen und älteren Menschen auch in der Prävention bessere Empfehlungen geben. Dabei würden schon moderate Anpassungen einen großen Effekt ausmachen: Wer seine täglich absolvierten Schritte von 4.000 auf 6.000 steigert, profitiert von einer besseren Kondition, mehr Lebensqualität und einer gestärkten Resilienz. So ließe sich auch die Mortalität von Menschen ab dem 70. Lebensjahr um mehr als 20% senken.

Geriatrisches Assessment wird digital

Als nächster Schritt sollten die digitalen Assistenten bald Einzug in das umfassende geriatrische Assessment finden. Beispiel Timed-Up-and-Go-Test: Unserem bloßen Auge bleiben wichtige Parameter verborgen, die technische Sensoren erfassen können. Beim Drehen und Aufstehen werden dann Werte erfasst, die mit dem Auge und der Stoppuhr nicht erfassbar sind. Dieses Gesamtbild ist wichtig, um die Kapazität der Patienten zu erfassen.

Es ist nicht mehr zeitgemäß, dass im geriatrischen Assessment keine digitalen Aspekte vorgesehen sind. Die Geriatrie wirkt manchmal wie eine Parallelwelt - und das muss sich schnellstmöglich ändern. Die technischen Möglichkeiten sind da und müssen zum Wohle unserer älteren Patientinnen und Patienten endlich genutzt werden.

Wir wissen längst, dass die körperliche Aktivität entscheidend für die kognitive, physische und emotionale Gesundheit ist. Das muss Konsequenzen haben: Künftig sollten zumindest digitale Werte der körperlichen Aktivität genauso regelmäßig und selbstverständlich erfasst werden wie Blutbiomarker, Nieren- oder Herzfunktionswerte. Dieses neuartige geriatrische Assessment und daraus resultierende Maßnahmen können wirksamer sein als so manches Medikament und ggf. auch Übermedikationen vorbeugen - Motto: Mehr Daten, weniger Pillen.

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Prof. Dr. med. Clemens Becker

Unit Digitale Geriatrie, Universitätsklinik Heidelberg