Eigentlich wollte ich immer Klinikarzt bleiben. Doch unverhofft kam die KV auf mich zu mit der Frage, ob ich mich an einem unterversorgten Ort niederlassen wolle. Ich sagte schließlich zu und begann mit der Praxiseinrichtung. Bei den älteren, teils kranken Kollegen stellte ich mich natürlich vor - und bekam deutlich zu spüren, dass ich nicht willkommen war. Äußerungen wie "Was kann der junge Kerl schon können?" kamen mir zu Ohren. Das war nicht eben motivierend, schließlich hatte ich zehn Jahre Berufserfahrung als Ober- und Chefarzt.

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Hielt der Kanzler sich für den US-Präsidenten? Ein Gerücht, dass nur der echte Leibarzt beurteilen könnte.

Noch vor der Eröffnung klingelte es an der Praxistür. Ein alter Herr, Kriminalkommissar a. D., stellte sich vor. Er habe von meiner Niederlassung gehört, und dass ich als "ehemaliger Leibarzt des Kanzlers" eine besondere Kapazität sei und nicht jeden behandeln würde. Ob er denn zukünftig zu mir kommen dürfe? Ich war ob des neuen Gerüchts erstaunt, versicherte ihm aber, dass natürlich jeder zu mir kommen dürfe.

An einem 2. Januar eröffnete ich die Praxis. Draußen Schneetreiben, Nebel, Glatteis, kein Mensch auf der Straße. Am Abend hatte ich ganze zwei Patienten behandelt. Kein ermutigender Start! Aber das Wetter wurde milder, der Schnee geräumt, und nach einer Woche zählte ich 54 Patienten. Nach zwei Jahren hatte ich die größte Praxis weit und breit.

Den Bundeskanzler hatte ich nie behandelt und kannte gerade mal seinen Namen. Das "Willkommen" der Kollegen nach dem alten Motto "Der schlimmste Feind des Arztes ist sein Kollege" war wohl ins Leere gelaufen.