Kaum ein Symptom ist derart häufig und zugleich so unspezifisch wie die Müdigkeit. Um Hausärztinnen und -ärzten eine Orientierung zu geben und diagnostische und therapeutische Optionen aufzuzeigen, hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) die entsprechende Leitlinie grundlegend überarbeitet.

"Unter dem Label Müdigkeit verbergen sich ganz unterschiedliche Ausprägungen und Untergruppen", sagt Prof. Erika Baum von der DEGAM, die an der Aktualisierung federführend beteiligt war. "Patientinnen und Patienten kommen dann in die Praxis, wenn sie keine Erklärung für ihre Beschwerden haben oder sie als sehr belastend erleben."

Die neue S3-Leitlinie "Müdigkeit" der DEGAM finden Sie unter https://go.sn.pub/5Dhme1

Den Hausärzten asl ersten Ansprechpartnern kommt bei der Abklärung übermäßiger Müdigkeit herausragende Bedeutung zu. Um die Beschwerden richtig einzuordnen, hilft ein bio-psycho-soziales Krankheitsmodell, denn hinter ausgeprägter Müdigkeit können sowohl manifeste somatische Erkrankungen wie auch psychische und soziale Belastungsfaktoren stecken. Oft lassen sich die Ätiologien jedoch nicht trennscharf auseinanderhalten: "Der bio-psycho-soziale Ansatz ist ein wichtiges Prinzip in der Allgemeinmedizin, weil so viele Facetten ineinanderwirken und miteinander interagieren", erklärt Baum. Daher sei es wichtig, organische, psychische und soziale Aspekte von Anfang an zu beachten.

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Übermäßige Müdigkeit ist oft sehr belastend.

Warnung vor Überdiagnostik und -therapie

Gleichzeitig warnt die Expertin vor einer überzo- genen Diagnostik und Übertherapie. So sei z. B. eine unkritische Bestimmung des Vitamin-D-Spiegels nicht adäquat, da sie eine Scheinassoziation zur Müdigkeit nahelege. "Wir empfehlen, gezielt nachzuforschen, nicht schrotschussartig", so Baum.

So vielschichtig das Phänomen Müdigkeit ist, so wenig lassen sich pauschale Therapieempfehlungen finden. Liegen mehrere Gesundheitsprobleme vor, sind sie integrativ zu behandeln. Daneben stehen symptomorientierte aktivierende Maßnahmen und Gesundheitsberatung. Auch verhaltenstherapeutische Ansätze können begleitend sinnvoll sein.

Chronische Fatigue ist ernstzunehmen

Breiten Raum nimmt in der Leitlinie der Komplex myalgische Enzephalomyelitis / chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ein. Obligates Diagnosekriterium ist nach Expertenmeinung die post-exertionelle Malaise (PEM) - eine belastungsinduzierte, über mindestens 14 Stunden anhaltende Aggravierung der Symptome.

Baum weist darauf hin, dass eine PEM u. a. bei der Versorgung von Post-Covid-Patienten zu beachten sei. So müsse man aufpassen, die Betroffenen bei der Rehabilitation nicht zu überlasten. Außerdem sei es wichtig, sensibel auf die geschilderte Symptomatik einzugehen und sich nicht genervt abzuwenden. Denn häufig hätten Betroffene bereits einen langen Leidensweg hinter sich und seien auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen. Hausärzte können dazu beitragen, der Erkrankung ihr Stigma zu nehmen.

Das Thema ME/CFS ist auch unter Experten heiß umstritten. Einige Fachgesellschaften schlossen sich zu einem Sondervotum zusammen, das z. T. von der aktuellen Leitlinienversion abweicht. Baums Fazit: "Es besteht nach wie vor erheblicher Forschungsbedarf zu chronischer Fatigue und auch zum Long-Covid-Syndrom. Hier sind Zentren, aber auch hausärztliche Netzwerke aus Forschungspraxen wichtig, um methodisch gute Studien aufzulegen."