Wiederholte schwere Unterzuckerungen können Demenz und Depressionen verursachen. Daher sollten Diabetespatientinnen und -patienten regelmäßig gescreent und sorgfältig eingestellt werden.

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Ohnmacht: Mögliche Folge einer Unterzuckerung.

"Diabetikern ist es oft peinlich, dass sie Hypoglykämien trotz vieler Schulungen nicht verhindern können, andere kennen nicht die ganze Bandbreite der klinischen Erscheinungsformen", sagt der Diabetologe Dr. Christoph Axmann, Liebenburg. "So werden die 'Hypos' oft schamvoll versteckt oder nicht erkannt." Dies wiede-rum erschwert eine adäquate Behandlung.

Die 3 Hauptaufgaben des Gehirns

Das Gehirn ist auf die zuverlässige Versorgung mit Zucker als Energiequelle angewiesen, damit es seine Hauptaufgaben erfüllen kann. "Es verantwortet die neuronale Steuerung lebenswichtiger Funktionen, die kognitive Leistungsfähigkeit und die emotionale Stabilität", so Axmann. Hypoglykämien können diese Aufgaben schwer beeinträchtigen.

Eine Hypoglykämie liegt vor, wenn der Blutzucker unter 70 mg/dl (3,9 mmol/l) fällt. Dann werden Mechanismen ausgelöst, die sicherstellen sollen, dass das Gehirn weiter ausreichend mit Glukose versorgt wird. Bei Diabetikern hört ab einem Blutzucker von 80 mg/dl die Eigeninsulinproduktion auf. Fällt die Blutglukosekonzentration weiter, werden Adrenalin und Glukagon ausgeschüttet, um die hepatische Glukoneogenese zu aktivieren. Das Adrenalin wiederum löst für die Betroffenen wahrnehmbare Reaktionen aus: Unruhe, Heißhunger, Nervosität, Tachykardie, Angst und Panik.

Insulineinsatz wird vermieden

Die Angst vor einer Hypoglykämie kann laut Axmann eine effektive Diabetesbehandlung behindern, weil die Patienten den Insulineinsatz vermeiden. Besonders nächtliche Hypoglykämien machen ihnen Angst: So zeigte die DAWN2-Studie, dass sich 60% der Typ-1- und 36% der Typ-2-Diabetiker vor einer nächtlichen Unterzuckerung fürchten. Auch für Angehörige sind nächtliche Hypoglykämien, bei denen der Verwandte nicht mehr ansprechbar ist oder gar einen Krampfanfall hat, beängstigend. "Sie geraten dann plötzlich und unerwartet in die Rolle eines Notfalltherapeuten", so Axmann. Am nächsten Morgen könne oder wolle sich der Diabetespatient oft nicht an die für ihn quälende Situation erinnern, ein klärendes Gespräch sei so unmöglich.

Gefahren für das Gehirn

"Fällt der Blutzucker unter 60 mg/dl bzw. 3,3 mmol/l, dann wird es wirklich gefährlich für das Gehirn", sagt Axmann. Der Körper könne dann nur noch mit Kortisol die Insulinwirkung hemmen, um es zu schützen. Kommt es zu einem Glukosemangel im Gehirn, sind die drei oben genannten Hirnfunktionen betroffen: Unflexibles Denken, Unaufmerksamkeit, Konzentrationsschwäche und Kopfschmerzen stören die Kognition, auch Affektstörungen können auftreten. Axmann: "Die Menschen beginnen dann etwa zu weinen und können nicht mehr damit aufhören. Auch aggressive Durchbrüche oder Depressionen treten auf und neurologische Ausfälle wie Koordinations- oder Sehstörungen, Verwirrtheit, Bewusslosigkeit und epileptische Anfälle sind möglich."

Als Spätfolge wiederholter schwerer Hypoglykämien kann es zu schweren depressiven Episoden und Demenz kommen. Möglich sind auch schlaganfallähnliche Anfälle und mikrozirkulatorische Durchblutungsstörungen im Gehirn, die fokale neurologische Defizite bis hin zur Aphasie verursachen können. Axmann: "Bei drei schweren Hypoglykämien innerhalb von 25 Jahren verdoppelt sich das Risiko einer Demenz. Und wer dement ist, hat ein dreifach erhöhtes Risiko für eine Hypoglykämie, wenn er Insulin spritzen muss und damit nicht adäquat zurechtkommt."

Für die psychische Stabilität sei es daher erforderlich, den Diabetes gut zu kontrollieren und dies auch den Patienten zu verdeutlichen. Darüberhinaus sollten Diabetiker jährlich auf Depressionen hin gescreent werden. Die Fragen des WHO-5-Screeningfragebogens seien dafür gut geeignet, ggf. sei eine spezifische Depressionsdiagnostik nötig.

Quelle: Vortrag auf der Digitalen Campuswoche von MSD, 17. 11. 2022