In der Ukraine und anderen Ländern Osteuropas ist HIV immer noch ein Tabu- thema. Was Hausärztinnen und Haus-ärzte zur dortigen Infektionslage wissen sollten und mit welchen Missverständnissen sie als Behandler von Geflüchteten rechnen müssen, wurde auf den AIDS- und COVID-Tagen diskutiert.

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© Blumesser, Stock Adobe

AIDS-Gedenkstein in Kiew: Ca. 260.000 Ukrainer waren vor Kriegsbeginn HIV-positiv.

Die Tabuisierung der meist sexuell übertragenen Erkrankung führt in vielen osteuropäischen Staaten dazu, dass viel zu wenig auf HIV getestet wird. Die Folge: Sehr viele Menschen dort wissen gar nichts von ihrer Infektion.

In Polen, wo derzeit viele Flüchtlinge aus der Ukraine ankommen, hat sich der Infektiologe Prof. Miłosz Parczewski, Szczecin (Stettin) bereits seit Längerem mit dem HIV-Geschehen in seinem Nachbarland beschäftigt. Die Zahl der Menschen mit HIV in der Ukraine lag ihm zufolge vor Kriegsbeginn geschätzt bei 260.000, aber nur 69% der Betroffenen sei ihre Infektion bekannt. Eine antiretrovirale Therapie (ART) hätten bislang nur rund 130.000 HIV-infizierte Ukrainerinnen und Ukrai-ner erhalten, wobei es in etwa 10.000 Fällen nicht gelungen sei, die Viruslast unter die Nachweisgrenze zu bringen.

Von Deutschland unterscheidet sich die Situation in der Ukraine auch insofern, als es sich bei einem Großteil der HIV-Infizierten um Frauen handelt. Es dominiere die heterosexuelle Transmission, so der Infektiologe, und zwar vorwiegend mit dem Virussubtyp A. Für Flüchtlinge aus der Ukrai- ne gilt für Ärzte daher grundsätzlich die Empfehlung, nach dem HIV-Status zu fragen und ggf. einen Test durchzuführen.

Wichtig für den Praxisalltag ist es außerdem, kulturelle Besonderheiten im Herkunftsland und möglicherweise daraus entstehende psychische Belastungen für geflüchtete Patientinnen und Patienten mit HIV im Hinterkopf zu haben.

Fallbeispiel einer asylsuchenden Patientin aus Georgien

Der Dresdner HIV-Schwerpunktarzt Dr. Stefan Pursche stellte auf den AIDS-Tagen den Fall einer 29-jährigen Patientin vor, die 2018 mit Ehemann und Sohn aus Georgien geflohen war, um in Deutschland Asyl zu beantragen.

Zu ihrem Termin in der Dresdner Praxis hatte sie Unterlagen aus einem HIV-Zentrum in Tiflis mitgebracht. Demnach war sie seit August 2017 positiv, die georgischen Kollegen hatten ihr damals eine Dreifachkombination mit Tenofovir, Emtricitabin und Efavirenz (TDF/FTC/EFV) verschrieben. Trotz massiver Sprachprobleme wurde Pursche rasch klar, dass sie dringend ein neues Rezept benötigte. Das Labor ergab eine Viruslast von 2.050 Kopien/ml, die CD4-Zellen waren bereits auf 159/µl gesunken. Georgien grenzt an Russland, mit hoher Wahrscheinlichkeit war die Frau also mit dem Virussubtyp A1/A6, der dort vorherrscht, infiziert, so Pursches Vermutung. Ein Resistenztest sei aber nie gemacht worden.

Das Rezept wurde ausgestellt und ein erneuter Termin nach einigen Wochen vereinbart. Dabei kam heraus, dass die Patientin unter massiven Depressionen litt. Ihre Gedanken kreisten ständig um die Sorge, an HIV zu sterben und ihren kleinen Sohn allein zurücklassen zu müssen.

Inzwischen hatte die HIV-Therapie angesprochen, die Viruslast war auf 50 Ko- pien gesunken und die CD4-Zellen auf über 200 gestiegen. Ein Schädel-MRT ergab: Multiple hyperintense Läsionen in der linken Hemisphäre, was zur Verdachtsdiagnose Toxoplasmose führte.

Auf die Behandlung mit Sulfasalazin, Pyrimethamin und Folinsäure nahmen die neurologischen Beschwerden ab. Zur Depressionslinderung entschied sich Pursche für eine Umstellung der ART auf ein Single-Tablet-Regime mit RPV/TAF/FTC. Er wollte so auch die Frau vor einer Abschiebung bewahren: In Georgien, so das Argument, sei diese Therapie nicht verfügbar. Die Angst, wieder zurück zu müssen, hatte die Patientin massiv belastet. Erst nach monatelanger Behandlung habe sie ihm den Grund für ihre Flucht genannt: Ihre Familie habe sie nach der HIV-Dia-gnose auf die Straße gesetzt.

Schwangerschaftsabbruch aus Angst vor der Zukunft

Aber auch in Deutschland setzten sich die Missverständnisse fort. Im Januar 2021 erfuhr Pursche, dass die Frau einen Schwangerschaftsabbruch hatte vornehmen lassen - aus Angst, dass das Kind HIV-positiv zur Welt kommen könnte. Den HIV-Therapeuten hatte niemand aus der Abtreibungsklinik über die Schwangerschaft informiert. "Das hat mich sehr schockiert", so Pursche.

Zumindest aus medizinischer Sicht sei der Eingriff nicht notwendig gewesen. Immerhin: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ließ sich letztlich von der Absurdität, die Frau wieder nach Georgien zurückzuschicken, überzeugen. Dem Asylantrag wurde im Dezember 2021 stattgegeben.

Quelle: 18. Münchner AIDS- und COVID-Tage, 25.-27. März 2022