Seit Monaten vergräbt sich Deutschland täglich in Inzidenzraten und Todesfallzahlen; es diskutiert Präventionsmaßnahmen, fordert mehr Investitionen in Forschung und Digitalisierung und krempelt die Ärmel hoch, um sich impfen zu lassen. So viel Aufmerksamkeit für eine Erkrankung war nie! Und das ist gut so. Denn die Herausforderungen, die sich derzeit stellen, kennen wir auch aus der Krebsmedizin. Allerdings ignorieren wir sie dort seit Langem nachhaltig.

Jährlich erkranken in Deutschland rund 500.000 Menschen neu an Krebs und knapp 250.000 sterben daran. Würde man für jeden Krebstoten ein Kreuz auf bundesdeutschen Autobahnen aufstellen, dann stünde alle 57 Meter eines. Aber unsere Karawane zieht ungerührt daran vorbei. Dass es auch anders geht, zeigt der Vergleich mit dem Straßenverkehr, der Luftfahrt und dem Arbeitsschutz.

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© C. Kalle, G. Ralle

In diesen Bereichen akzeptieren wir vermeidbare Todesfälle längst nicht mehr. Wir investieren dort massiv in die Prävention und verhindern Todesfälle mit großem Erfolg. Das Rezept für diesen Erfolg lautet: Vision Zero. Vision Zero bedeutet von Anfang an, auf 0 Todesfälle zu zielen, um eine Reduktion zu erreichen; es bedeutet jeden Stein umzudrehen und massiv zu investieren.

Und dieses Investment lohnt sich: Über 50 Jahre hinweg ist die Zahl der Verkehrstoten pro Einwohner auf weniger als ein Zehntel gefallen. In der westlichen Luftfahrt gibt es Jahre ohne Todesfälle auf Milliarden Flugkilometer. Und der durchschnittliche Arbeitsplatz in Deutschland ist 10-mal sicherer als der eigene Haushalt.

Und wie halten wir's beim Krebs? Dort nehmen wir die Zahlen mit einer Mischung aus Resignation und Gleichgültigkeit hin, mit der wir auch einen wochenlangen Landregen hinnehmen würden. Natürlich sind wir nicht völlig untätig. Aber oft genug verschlafen wir die Einführung neuer Entwicklungen, verstricken wir uns im bürokratischen Dschungel, wollen wir ganz auf Nummer sicher gehen und jegliche 'Stakeholder-Interessen' berücksichtigen. Die Defizite im Bereich Prävention und Digitalisierung sind Legende. Fortschritt, Versorgung und damit letztlich die Gesundheit der Patienten bleiben auf der Strecke.

Wie sagte doch Karl Valentin einst: Mögen hätten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut.

Dieser Unentschlossenheit will die Vision-Zero-Initiative in der Onkologie entgegentreten. Was heißt das konkret? Zunächst einmal, dass wir alle für die Versorgung relevanten Strukturen und Prozesse auf den Prüfstand stellen. Im nächsten Schritt müssen wir Ziele, Handlungsfelder und Verantwortliche definieren und dann an die Umsetzung gehen - um die Zahl der vermeidbaren krebsbedingten Todesfälle drastisch zu senken.

Dem Thema Krebsprävention müssen wir erheblich mehr Aufmerksamkeit schenken. Und dies geht nicht ohne die niedergelassene Ärzteschaft. Vermeidbaren Krebserkrankungen sollten wir die rote Karte zeigen!

Der Augenblick für eine solche Initiative ist günstig. Wir müssen nur noch die Ärmel hochkrempeln und anfangen, wirklich und immer wieder jeden Stein umzudrehen.

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© Wiebke Peitz_I_Charité

Prof. Dr. med. Christof von Kalle

Berlin Institute of Health (BIH), Clinical Study Center (CSC) der Charité - Universitätsmedizin Berlin