Ein freundlicher, schwerhöriger 16-jähriger Junge, der über ein Knochenleitungsimplantat gut versorgt wird und damit normal hört, erhält als Unterstützung seit vielen Jahren einmal wöchentlich logopädische Sitzungen. Er hat seit jeher einen ausgeprägten Sigmatismus interdentalis. Trotz mittlerweile mehrerer Hundert Sitzungen Logopädie besteht die Sprachstörung weiterhin fort. Der Junge ist nicht mein Patient, und als ich ihn kürzlich einmal fragte, ob seine Logopädin denn keine entsprechenden Übungen eingesetzt habe, antwortete er zu meiner Überraschung, dass er zwar immer Zungenübungen machen müsse, aber keine speziellen Übungen für den Buchstaben S. Das sei niemals Thema gewesen. Es sei ihm auch nicht bewusst, dass er das S anders ausspreche als andere.

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Ich übte mit ihm ca. 150-mal das Wort "Haus", das er dann zumindest teilweise und passager, aber inkonstant richtig aussprechen konnte. Die Übungen dauerten nur einige wenige Minuten, zeigten aber schon erste Fortschritte. Mit einigen weiteren Stunden lässt sich da sicher viel erreichen. Inzwischen hat er von seiner Logopädin immerhin ein - wenn auch schwer verständliches - Übungsblatt zum S erhalten.

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© AaronAmat / Getty Images / iStock (Symbolbild mit Fotomodell)

"Wo soll meine Zunge beim S hin?"

Es ist mir unbegreiflich, dass bei vielen Hundert Sitzungen Logopädie bisher keine zielgerichteten logopädischen Übungen gegen den Sigmatismus eingesetzt wurden. Dies ist eine Zumutung für die Eltern, die Krankenkassen, vor allem aber für den Jungen, dem die Sprachstörung bisher gar nicht bewusst gewesen war. Ist Logopädie tatsächlich solch ein Selbstläufer geworden, dass Erfolge bzw. Misserfolge auch bei enormer Sitzungszahl gar nicht überprüft werden?