SARS-CoV-2 - seit knapp einem Jahr verändert das Virus die Welt. Bislang gibt es noch nicht allzu viele Daten über den Zusammenhang zwischen Diabetes und COVID-19. Das schafft Unsicherheit auf allen Seiten. Dieser Beitrag möchte aufzeigen, welche Aspekte es bei der Begleitung unserer Patienten in dieser Pandemiezeit zu bedenken gilt.

In unserer Praxis erhalten wir täglich Terminabsagen, weil Patienten Angst haben, sich einem erhöhten Ansteckungsrisiko auszusetzen. Gelegentlich wird nachgefragt, ob der Quartalstermin auch mittels Video-Sprechstunde durchgeführt werden kann. Derzeit wird viel diskutiert, ob der virtuelle Kontakt eine akzeptable Alternative zum Termin in der Sprechstunde sein könnte. Aus meiner Sicht ist dies eine Option, die jedoch wichtige Untersuchungen wie Labor, Blutdruckmessung, Fußstatus, Inspektion von Spritzstellen und vieles mehr unmöglich macht.

Alltägliche Fragen

Mit zunehmender Dauer der Pandemie ist zu beobachten, wie sehr unsere Patienten das persönliche Gespräch suchen. Terminabsagen sind selten geworden, man vertraut auf das Hygienekonzept in der Arztpraxis. Die häufigsten Fragen, die ich täglich zu beantworten habe, sind folgende:

  • Wie hoch ist mein Infektionsrisiko als Diabetiker?

  • Kann ich ein Attest bekommen, um im Homeoffice arbeiten zu können?

  • Warum bekomme ich als Typ-1-Diabetiker in der Apotheke keine Schutzmaske?

  • Empfehlen Sie mir eine Impfung?

  • Was kann ich tun, um nicht weiter an Gewicht zuzunehmen?

  • Wann finden in der Praxis wieder Gruppenschulungen statt?

Das vorrangige Problem für unsere Patienten ist derzeit die zunehmende Verunsicherung und Vereinsamung. Die täglichen Berichte zur Pandemie in den Medien sind oft widersprüchlich, der weitere Verlauf nicht vorhersehbar, der Einzelne hat darüber keinerlei Kontrolle. Den Berufstätigen fehlen die regelmäßigen Kontakte mit den Arbeitskollegen, da sie überwiegend im Homeoffice arbeiten. Rentner vermissen ihre Treffen mit Bekannten und Freunden beim Sportverein, Stammtisch, bei Kulturveranstaltungen oder Tagesreisen und Urlauben. Kinder und Jugendliche, die zu Hause Distanzunterricht haben, vermissen die Kontakte zu Gleichaltrigen. Ihre Eltern haben durch die Betreuung zu Hause eine neue und ungewohnte Doppelbelastung. Daraus resultieren meist ein geringeres Bewegungspensum und die ständige Nähe zum Kühlschrank - eine Gewichtszunahme ist also vorprogrammiert.

Was Menschen in der Pandemie suchen, sind Gespräche mit Gleichgesinnten und ein Gedankenaustausch. Bislang gibt es in unserem Gesundheitssystem keine etablierten Strukturen, die diesen Bedürfnissen Rechnung tragen. Der Kontakt unter Betroffenen ist eine wichtige Ergänzung zum Arzt-Patienten-Gespräch. In einer Gruppe kann man leichter darüber berichten, wo der Schuh drückt - man teilt Probleme und Erfahrungen, kann sich gegenseitig motivieren und unterstützen, erfährt Anteilnahme und Zuwendung.

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© Proxima Studio / stock.adobe.com (Symbolbild mit Fotomodellen)

Den Quartalstermin auch als Videosprechstunde anbieten?

Alltägliche Gegebenheiten

Corona hat also die Alltagsbedingungen aller Menschen verändert. Während es manchen gelingt, die gewonnene Zeit zu nutzen und Bewegungsaktivitäten zu steigern, beklagt die Mehrheit den Mangel an sozialen Kontakten, die permanente Verfügbarkeit von Essen und eine zunehmende Unlust, sich zu bewegen.

Eine kleine Gruppe profitiert von der Krise: Wer zuvor am Arbeitsplatz Dauerstress hatte, erlebt das Arbeiten zu Hause als große Erleichterung. Das geringere Stresslevel lässt sich an besseren Blutzuckerwerten ablesen. Der größere Teil hat nun jedoch neben seinem Beruf auch noch neue Aufgaben wie z. B. die Betreuung von schulpflichtigen Kindern zu schultern. Dies führt zur physischen und psychischen Dauerbelastung. Entspannung im Fitnessstudio, Sportverein oder Treffen mit Freunden entfallen.

"Nicht am Ziel wird der Mensch groß, sondern auf dem Weg dorthin."

Ralph Waldo Emerson

Die Stressforschung unterscheidet zwischen positivem, tolerierbarem Stress und toxischem Stress [1]. Ursächlich ist nicht so sehr die Pandemie als solche, sondern dass man über das augenblickliche Geschehen keine Kontrolle hat. Es bedeutet toxischen Stress, in Unsicherheit zu leben und nicht zu wissen, wie lange die Einschränkungen des täglichen Lebens, finanzielle Sorgen oder die Angst um Ausbildung und Arbeitsplatz noch bestehen werden. Dazu kommen Fragen, wie sich Diabetes auf eine mögliche Infektion auswirken kann und welche Risiken man mit einer Impfung eingeht.

Mögliche Antworten

Wie können wir unsere Patienten dabei unterstützen, ein Mindestmaß an Kontrolle zu bewahren und Ängste abzubauen?

  • Informationen geben zu der Frage, welcher Zusammenhang zwischen der Diabeteseinstellung und dem Infektionsgeschehen besteht.

  • Anregungen geben, welche Optionen es gibt zu kommunizieren, um nicht in Isolation und Einsamkeit zu verharren.

  • Anregungen geben, wie und wo man sich positive Gefühle holen kann.

Viele Fragen zu COVID-19 sind derzeit noch offen. Die verfügbaren Daten sprechen jedoch dafür, dass vor allem schlecht eingestellte Diabetespatienten ein hohes Risiko für eine Infektion und einen schwereren Verlauf der Erkrankung haben [3]. Diese Botschaft müssen wir vermitteln. Sie kann Ansporn sein, sich der Erkrankung intensiver zu widmen.

Wenn in Zeiten des Lockdowns soziale Kontakte wegbrechen, dann gilt es, in Vergessenheit geratene Kontaktwege zu reaktivieren: Das klassische Telefonat oder ein Brief erfährt eine Renaissance. So wie die Menschen nicht mehr im Geschäft, sondern nun im Netz einkaufen, kann das Gespräch zumindest fernmündlich stattfinden. Auch skypen könnte eine neue Art der Kommunikation sein.

Im Gespräch mit unseren Patienten ist es wichtig zu vermitteln, dass toxischer Stress durch steigende Cortisol-Werte zu einer Verschlechterung der Blutzuckereinstellung führt. Stellen sich Gefühle wie Ohnmacht, Angst oder Isolation ein, so ist es wichtig, darüber zu sprechen und nachzudenken, wie man Abhilfe schaffen kann. Ein wichtiges Element ist dabei, nicht auf Aktionen von außen zu warten, sondern sich selbst positive Gefühle zu verschaffen. Das kann gelingen, indem man ein altes Hobby reaktiviert wie Malen, Werken, Basteln, Lesen, Musizieren oder Handarbeiten.

Nun kann man sich in Ruhe all den Dingen widmen, wofür man bislang nie Zeit hatte. Das ist eine Chance in der Pandemie. Es könnte auch gelingen, sich wieder intensiver mit der eigenen Diabeteserkrankung zu beschäftigen, sich mit BE- und Korrekturfaktoren auseinanderzusetzen und sich vielleicht an bislang ungenutzte technische Ressourcen wie Glukosesensor oder Insulinpumpe zu wagen.

Eine Verbesserung der Blutzuckereinstellung könnte vielen Patienten wieder ein Gefühl von Stolz und Zufriedenheit schenken. Nicht Ohnmacht wie gegenüber der Pandemie, sondern aus eigener Kraft wieder Macht und Kontrolle über das Diabetesgeschehen zu haben, ist eine Erfahrung, die Berge versetzen kann und stark macht. Dieses Gefühl durch therapeutische Begleitung zu vermitteln, ist eine fundamentale ärztliche Aufgabe und nur durch regelmäßige Gespräche möglich.

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Dr. med. Veronika Hollenrieder

Ambulantes Diabeteszentrum Unterhaching, Vorsitzende der FKDB