Auch die Diabetologie bleibt von COVID-19 nicht verschont. Beim diesjährigen Europäischen Diabetologenkongress war dies ein zentrales Thema. Doch viele Fragen, insbesondere im Hinblick auf pathogenetische Mechanismen, sind noch nicht vollständig geklärt.

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© Alessandro Biascioli , Stock Adobe

Dass Diabetiker ein erhöhtes SARS-CoV-2-Infek- tionsrisiko haben und nicht nur häufiger als Menschen ohne Diabetes mellitus, sondern auch schwerer erkranken, gilt als gesichert. Dabei mehren sich die Befunde, die dafür sprechen, dass es sich nicht nur um eine bloße Assoziation handelt, sondern dass vielmehr eine kausale Beziehung besteht - und zwar in Form eines verhängnisvollen Wechselspiels.

Hinzu kommen auch noch nicht abschätzbare Kollateralschäden durch Defizite bei der Betreuung der Diabetiker während der Pandemie. Aus Angst vor der Infektion haben nämlich viele Betroffene im Lockdown auf Kontrolluntersuchungen verzichtet, sodass notwendige Anpassungen der Therapie und auch Interventionen nicht erfolgten. Ein guter Indikator dafür ist die Anzahl der durchgeführten HbA1c-Bestimmungen. Die Zahl dieser Untersuchungen ging z. B. in England im Zeitraum von März 2020 bis September 2020 um 2,5 Millionen deutlich zurück, wie die Angaben aus sechs großen britischen Laboren zeigen. Was solch eine Negativentwicklung für den Krankheitsverlauf, die Komplikationsrate und schließlich für die Prognose der Patienten bedeutet, darüber gibt es noch keine ge- nauen Angaben, wie Prof. David Holland von der Keele University, Newcastle, auf dem EASD-Kongress berichtete.

Literatur: 1. Wu CT et al. Cell Metabolism 2021; doi: 10.1016/j.cmet.2021.05.013

Die Funktion der Beta-Zellen wird gestört

Das Virus SARS-CoV-2 hat die Fähigkeit, die Funktion vieler Zellen in unterschiedlichen Geweben und Organen anzugreifen. Dies erklärt, warum die Infektion zu Organschädigungen bis hin zu einem Multiorganversagen führen kann. Zu den betroffenen Zellen gehören auch die Betazellen des Pan- kreas mit der Folge einer Verschlechterung des Stoffwechsellage. So könnte das Virus zumindest theoretisch auch zu einer primären Manifestation eines Insulinmangel-Diabetes führen. Versorgungsdaten ergeben allerdings bisher keinen Hinweis darauf, dass die Inzidenz eines solchen Diabetes bei Kindern und Jugendlichen seit Beginn der Pandemie zugenommen hat.

15% der hospitalisierten COVID-19-Patienten entwickeln einen Diabetes [1].

Dies ist die Rationale für die experimentelle Forschung an humanen pluripotenten Stammzellen in Form von Modellen. "Damit hofft man, wichtige Einblicke in die pathogenetischen Mechanismen und die beteiligten Zellsysteme bei einer SARS-CoV-2-Infektion gewinnen und die Wirksamkeit von neuen Medikamenten prüfen zu können", erläuterte der renommierte Stammzellforscher Prof. Shuibing Chen vom Weill Cornell Medical Colleg, New York.

Upregulation von ACE2

Mehrere Arbeiten deuten auf eine mögliche Beziehung zwischen einer Coronainfektion, einer Angiotensin-Converting-Enzym 2(ACE2)-Expression und dem Glukosestoffwechsel hin. Signalwege über ACE2 könnten einen spezifischen Einfluss haben, da das Coronavirus-Spike-Protein den ACE2-Rezeptor für den Zelleintritt nutzt. ACE2 selbst zeigte in Zell- und Tiermodellen antiinflammatorische und anti-fibrotische Effekte. Es konnte nachgewiesen werden, dass die zellschädigenden Wirkungen des Virus über das ACE2-Protein vermittelt werden. Dieses Enzym findet sich auf der Oberfläche vieler Zellen, auch auf den Betazellen. Es gibt erste Daten, die dafür sprechen, dass die Schwere und die Form der Organbeteiligung bei einer SARS-CoV-2-Infektion von der Expression von ACE2 in den verschiedenen Organen bestimmt werden. Bei älteren Patienten und solchen mit einem Diabetes scheint die ACE2-Expression auch auf den Betazellen gesteigert zu sein, man spricht von einer Upregulation. Das Gleiche gilt für inflammatorische Situationen, wie der Diabetes eine darstellt. "Eine solche Upregulation von ACE2 erklärt das erhöhte Risiko für eine schwere Infek- tion bei älteren und komorbiden Patienten", sagte Prof. Francesco Dotta von der diabetologischen Universitätsklinik in Siena.

Typ-2-Diabetes und chronische Niereninsuffizienz sind Prädiktoren für Tod

Doch warum sind nicht alle Diabetiker von einem schweren, eventuell tödlichen Verlauf einer Coronainfektion gleichermaßen betroffen, und warum ist das Sterberisiko bei Typ-2-Diabetiken höher als bei Typ-1-Diabetikern? Gibt es Prädiktoren für einen tödlichen Verlauf - und wenn ja welche? In der englischen ACCREDIT-Studie erwies sich die Kombination aus höherem Alter und Anstieg des C-reaktive-Protein(CRP)-Wertes als besonders fatal. Auch Diabetiker im Alter unter 70 Jahren mit einer diabetischen Nephropathie hatten ein um den Faktor zwei höheres Mortalitätsrisiko als Patienten ohne Nephropathie. Doch beim Body-Mass-Index (BMI) und dem HbA1c-Wert fand sich keine Korrelation zum Sterberisiko. "Auch die Einnahme eines ACE-Hemmers oder AT1-Blockers war nicht mit einer schlechteren Prognose assoziiert", berichtete Studienleiter Prof. Daniel KevinLlanera, Countess of Chester NHS Foundation Trust.

Wer Insulin braucht, stirbt eher

Die ACCREDIT-Auswertungen beziehen sich auf Daten von 1.004 Diabetikern mit einem medianen BMI von 27,6 kg/m2, von denen jeder zweite Diabetes-bedingt an makrovaskulären und ebenfalls jeder zweite an mikrovaskulären Komplikationen litt. 7,5% dieser Patienten wurden intensivpflichtig und 24% verstarben innerhalb von sieben Tage nach der Klinikaufnahme. Die im Vergleich mit anderen Studien relativ hohe Sterberate erklärt sich durch den niedrigen sozioökonomischen Status und das höhere Alter der Patienten. 9,8% der Studienteilnehmer benötigten eine Insulininfusion, wobei in der Regel ein Switchen von der bisherigen antidiabetischen Medikation erfolgte. Insulinpflichtige Diabetiker verstarben doppelt so häufig wie Patienten, die kein Insulin benötigten. Und Typ-2-Diabetiker verstarben ebenfalls doppelt so häufig wie Typ-1-Diabetiker, was dem höheren Alter und den Komorbidi- täten bei Typ-2-Diabetikern geschuldet sein dürfte, so Llanera.

Quelle: Virtuelle 57. Jahrestagung der European Association for the Study of Diabetes (EASD) 2021, 27.9.-1.10.2021