Das kardiovaskuläre Risiko von Menschen mit HIV kann einer Untersuchung der Universität Duisburg-Essen zufolge mit den üblichen Scores nicht so zuverlässig eingeschätzt werden wie in der Allgemeinbevölkerung.

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©LIGHTFIELD STUDIOS, Stock Adobe

HIV-Patienten haben ein deutlich erhöhtes kardiovaskuläres Risiko.

Dank wirksamer antiretroviraler Therapien erreichen Menschen mit HIV heute ein immer höheres Alter. Allerdings ist ihr Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen (CVD) größer als das der Allgemeinbevölkerung. Neben den üblichen kardiovaskulären Risikofaktoren belasten das chronische Entzündungsgeschehen, die Immunaktivierung sowie die antiretrovirale Therapie (ART) Herz und Gefäße.

Der Framingham Risk Score (FRS), die Systematic Coronary Risk Evaluation (SCORE) und der atherosclerotic Cardiovascular Disease-Risikoscore (asCVD) werden eingesetzt, um das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse einzuschätzen. Je nach Test werden dabei unterschiedliche Faktoren wie Alter, Geschlecht, Gesamtcholesterin, HDL, systolischer Blutdruck, antihypertensive Therapien, Raucherstatus und Diabetes erfasst. Da mittlerweile allerdings der Verdacht aufkam, dass mit diesen Routine-scores das CVD-Risiko von Menschen mit HIV nicht richtig eingeschätzt werden kann, hat eine Gruppe um Stefan Esser von der Universität Duisburg-Essen diesen Aspekt näher untersucht.

Zwei Studien mit fast 5.000 Teilnehmern als Datengrundlage

Basis der Analyse waren zwei Studien mit Teilnehmern aus dem deutschen Ruhrgebiet. Die Daten stammen aus der HIV-HEART(HIVH)-Studie mit 567 HIV-positiven Patienten im Durchschnittsalter von rund 53 Jahren sowie der populationsbasierten Heinz-Nixdorf-Recall(HNR)-Studie mit 4.400 Teilnehmern im Durchschnittsalter von 59 Jahren. Die HIV-Infektionen waren durchschnittlich neun Jahre vor Studienbeginn diagnostiziert worden.

In der Regressionsanalyse untersuchten Esser und Kollegen die Zusammenhänge zwischen den Resultaten des FRS und dem Auftreten von kardiovaskulären Ereignissen und peripherer arterieller Verschlusskrankheit (PAVK), von SCORE und koronarer Herzkrankheit (KHK) sowie von asCVD-Score und kardiovaskulären Ereignissen. Als Maß für die Leistungsfähigkeit der jeweiligen Scores wurde die "Area Under the Curve" (AUC) herangezogen, eine Größe, durch welche die Bioverfügbarkeit eines Pharmakons ausgedrückt wird.

HIV-spezifische Einflussfaktoren nicht berücksichtigt

In der HIVH-Studie mit HIV-Patienten registrierten Esser und Kollegen innerhalb von fünf Jahren insgesamt mehr kardiovaskuläre Ereignisse als in der HNR-Studie mit Daten aus der Allgemeinbevölkerung (CVD/PAVK: 12,1% vs. 3,9%; KHK: 7,8% vs. 2,1%; CVD: 9,9% vs. 3,5%). In beiden Studien stieg das alters- und geschlechtsadjustierte CVD-Risiko mit den Scorepunkten in FRS, SCORE und asCVD an. Allerdings konnte in der Allgemeinbevölkerung eine bessere Übereinstimmung zwischen Scorewerten und Ereignissen festgestellt werden als in der HIV-Kohorte.

In dem Beobachtungszeitraum wurden unter HIV-Patienten drei- bis viermal mehr kardiovaskuläre Ereignisse beobachtet als in der Allgemeinbevölkerung. Während die Scores in beiden Studien einen positiven Zusammenhang zwischen Scorewerten und dem CVD-Risiko erkennen ließen, signalisierten die AUC-Ergebnisse in der HIVH-Studie eine geringere Vorhersagegenauigkeit als in der HNR-Studie: Trotz der unterschiedlichen Ereignisraten waren die ermittelten CVD-Risikoerhöhungen pro Score-Anstieg um eine Einheit mit denen der Allgemeinbevölkerung nahezu vergleichbar: FRS: +5% NIVH vs. +4% NRH; SCORE: +21% vs. +33%; asCVD: +1% vs. +4%.

HIV-spezifische Faktoren wie etwa eine ART oder die Infektionsdauer, die das Risiko für künftige kardiovaskuläre Ereignisse in der Gruppe mit HIV-Patienten beeinflussen könnten, wurden nicht in die Kalkulation einbezogen. Künftige Studien müssten klären, ob die Berücksichtigung solcher Parameter zu einer genaueren Einschätzung des CVD-Risikos bei Menschen mit HIV führen kann.

Quelle: Schulz CA et al. HIV Medicine 2021; doi: 10.1111/hiv.13124