Anfang 2020 irritierte unsere Bundeskanzlerin mit der Aussage, dass sich wahrscheinlich 60-70% der Menschen in Deutschland mit dem Coronavirus infizieren würden. Dahinter steckte die einfache Rechnung, dass ein Coronavirus-Infizierter im Schnitt 3 Personen ansteckt. Sind aber zwei Drittel der Personen immun, verlangsamt sich das Infektionsgeschehen. Merkel sprach von Herdenimmunität.

Ursprünglich stammt der Begriff aus der Veterinärmedizin. Um 1910 grassierte in den USA Brucella abortus unter Rindern, was zu spontanen Fehlgeburten führte. Im Glauben, die Erkrankung loszuwerden, wurden die betroffenen Kühe getötet. Der Tierarzt George Potter erkannte, dass der Ansatz falsch war. Im Jahr 1916 stellte er das Konzept der Herdenimmunität auf, das besagte, dass sich in einer Herde eine Immunität einstellt, welche auch die Ungeborenen schützt, wenn genügend Tiere die Infektion erfolgreich durchgemacht haben.

Eine Art Solidaritätsprinzip

Die Herdenimmunität ist etwas sehr Solidarisches. Geimpfte oder Genesene einer Gruppe schützen die, die sich nicht impfen lassen können oder für die eine Infektion tödlich sein könnte. Die Gemeinschaft schützt die Schwachen mit ihrem Immunsystem.

Ob es bei SARS-CoV-2 eine Herdenimmunität geben wird, ist nicht leicht zu beantworten. Grob gerechnet geht man derzeit davon aus, dass aufgrund der neuen Varianten zwischen 80 und 90% geimpft oder genesen sein müssten, damit sich eine Herdenimmunität einstellt. Soweit die Theorie. Leider ist der Impfstoff nicht perfekt, schützt nicht immer vor einer Infektion, aber schützt zuverlässig vor einem schweren Verlauf. Wie häufig sich Geimpfte noch anstecken werden und ob sie das Virus weitergegeben können, ist bisher nicht eindeutig geklärt. Erste Berichte aus Israel - ein Land, dass bekanntlich eine hohe Impfquote hat - zeigen, dass bei neuen Ausbrüchen unter den Infizierten 40-50% Geimpfte sind. Auch wenn die klassische Herdenimmunität in weite Ferne rückt, werden wir durch Impfung einen Herdeneffekt sehen, was bedeutet, dass Infektionsketten eher abgebrochen werden und das Virus sich langsamer verbreitet.

Die Idee der Herdenimmunität wurde emotional in der Corona-Debatte diskutiert. Bereits die Begrifflichkeit an sich ist problematisch, da wenige Menschen Teil einer Herde sein wollen. Problematisch ist darüber hinaus, dass der Begriff Herdenimmunität oft mehrdeutig, zum Beispiel mit dem Begriff des Herdeneffekts synonym verwendet wird oder mit dem Begriff Durchseuchung gleichgestellt wird.

Der beste und sicherste Weg, einen Herdeneffekt zu erreichen, ist über eine Impfung. Hier sind wir im Impffortschritt und in der Akzeptanz auf einem guten Weg. Wir hatten Glück, dass die Impfstoffe so schnell gefunden wurden, denn das Szenario, dass keiner der Impfstoffe funktionieren würde, war ebenso realistisch. Tatsächlich haben wir gegen viele der infektiologischen Killer wie Dengue, Malaria oder HIV bisher keinen Impfstoff.

Dem Virus freien Lauf lassen wollte kein Experte

Kein Experte und auch nicht unsere Bundeskanzlerin wollten in Deutschland eine ungezielte Durchseuchung in der Gesellschaft in dem Sinne, dass Todesfälle bewusst in Kauf genommen werden und dem Virus freier Lauf gelassen wird. Wer das unterstellt, versteht entweder den Begriff der Herdenimmunität nicht oder will die Differenzierung in den Äußerungen nicht hören. Natürlich ist es geboten, Infektionen, schwere Verläufe und v. a. Todesfälle zu vermeiden, aber gleichzeitig auch die Kollateralschäden der Maßnahmen, sei es gesundheitlich, psychisch oder wirtschaftlich, gering zu halten. Zugute kam uns dabei unser Wissen über die Saisonalität der vier heimischen Coronaviren. Die Infektionszahlen sinken im Frühling, steigen aber im Herbst und Winter wieder rasant an. Das wiederholt sich jedes Jahr - wie eine Dauerwelle. Zusätzlich hat der Sommer einen weiteren, bisher noch nicht gänzlich geklärten Effekt: Coronavirus-Infektionen verlaufen im Sommer häufig milder. In der Tat wurde auch für Pneumonien im Generellen eine Saisonalität beschrieben. Eine Infektion mit SARS-CoV-2 in den Sommermonaten bedeutet etwas anderes als in den Wintermonaten. Daraus folgt, dass man aber im Herbst auch wieder mit einem Ansteigen der Infektionszahlen und schweren Verläufe rechnen muss. Wie stark der Anstieg in diesem Herbst sein wird, ist nicht vorhersehbar, da dies abhängig ist von den zirkulierenden Varianten, dem Impffortschritt und unserem neu erlernten Umgang bzgl. eines Lebens mit dem Virus. Das Ende der Pandemie ist aber absehbar: Epidemiologisch gesehen geht die Pandemie irgendwann in eine Endemie über, nämlich wenn die Basisreproduktionszahl R0 und der Anteil der Personen, die sich noch infizieren können, gleich 1 ist. Jeder von uns kann durch eine Impfung daher zum Ende der Pandemie beitragen.

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Prof. Dr. med. Hendrik Streeck

Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn.