Eine retrospektive Kohortenstudie liefert robuste Evidenz für eine erhöhte Inzidenz neurologischer und psychischer Erkrankungen nach COVID-19. Sage und schreibe ein Drittel der Genesenen entwickelten entsprechende Symptome. Am höchsten war das Risiko nach einem schweren Krankheitsverlauf.

Ausgewertet wurden Daten des globalen TriNetX Analytics Network, in dem elektronische Gesundheitsakten von 62 Gesundheitsorganisationen mit insgesamt 81 Millionen Patienten zusammengeführt sind. Für die Kohortenstudie wurden alle Patienten mit einer COVID-19-Diagnose identifiziert und zwei Kontrollgruppen gebildet: Patienten mit irgendeiner anderen pulmonalen Infektion und Patienten mit Influenza.

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Ein Fünftel der COVID-19-Genesenen entwickelten eine Angststörung.

Innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen nach dem Index-Ereignis wurde das Auftreten von insgesamt 14 neurologischen oder psychischen Folgeerkrankungen untersucht: Schlaganfälle, Parkinson, Guillain-Barré-Syndrom, Nerven(wurzel)- und Plexusstürungen, neuromuskuläre Krankheiten, Enzephalitis, Demenz, psychotische, affektive und phobische Störungen, Suchtkrankheiten und Insomnie.

Insgesamt wurden 236.369 Patienten mit COVID-19 identifiziert. 33,62% von ihnen hatten binnen sechs Monaten eine neurologische oder psychische Folgeerkrankung entwickelt. Bei 12,84% war es die erste einschlägige Diagnose überhaupt. Für die Subgruppen der hospitalisierten und der intensivpflichtigen Patienten waren die Prävalenzen höher; am stärksten betroffen waren Patienten mit einer Enzephalopathie im Rahmen von COVID-19.

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Auch im Vergleich zu den Kontrollgruppen zeigten Menschen nach COVID-19 für nahezu alle untersuchten Erkrankungen sechs Monate nach dem Indexereignis höhere Prävalenzen. Insbesondere zerebrovaskuläre Erkrankungen waren signifikant häufiger. Psychische Erkrankungen, v. a. affektive und Angsterkrankungen, traten sehr häufig auf, allerdings war hier die Assoziation mit der Schwere des COVID-19-Verlaufs weniger ausgeprägt.

Quelle: Taquet M, Geddes JR, Husain M et al. 6-month neurological and psychiatric outcomes in 236 379 survivors of COVID-19: a retrospective cohort study using electronic health records. Lancet Psychiatry. 2021;8:416-27

MMW-Kommentar

Die Studie zeigt in eindrucksvoller Weise, dass neurologische und psychische Folgeerkrankungen nach einer COVID-19-Erkrankung bei mindestens jeder dritten betroffenen Person auftreten. Das retrospektive Design und die Verwendung elektronischer Patientendaten müssen kritisch hinterfragt und durch prospektive Studien validiert werden, aber die Botschaft für die klinische Praxis ist klar: Wir müssen in den nächsten Monaten bis Jahren bei den genesenen Personen nach einer COVID-19-Erkrankung wachsam sein und unter Würdigung von Patientencharakteristika und Vorerkrankungen ein besonderes Augenmerk auf die hier untersuchten Folgeerkrankungen richten.

Auch wenn die Mechanismen durch das Studiendesign nicht aufzuklären sind, finden sich Hinweise für pathophysiologische Zusammenhänge zwischen COVID-19 und v. a. zerebrovaskulären Erkrankungen, aber auch für psychosoziale Zusammenhänge zwischen der Infektion und affektiven Störungen sowie Angsterkrankungen.

Nebenbei bemerkt: In Deutschland wären solche Studien nicht möglich, da wir aus diversen Gründen (Datenschutz, IT-Ausstattung im Gesundheitswesen, Förderstrukturen) solche Datenbanken nicht haben. Wir können froh sein, dass andere Länder - allen Datenschutzproblemen zum Trotz - hier vorangehen, denn sonst würden wir nicht nur im Kontext dieser Studie viel weniger über die COVID-19-Pandemie wissen - und könnten unsere Patientenversorgung nicht weiterentwickeln.

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Prof. Dr. med. A. Hasan

Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universität Augsburg