Ein älterer Herr beklagte sich einmal bei mir, dass die Zeit in seinem Leben so schnell vergangen sei. Er konnte Latein, und so verwies ich ihn auf Horaz’ Spruch „Carpe diem“. Den kenne er genau, meinte er, doch beantworte das ja nicht seine Frage nach der Zeit. Ich meinte zu ihm, dass er den Spruch dann eben nicht genau kennen würde, und gab ihm den ganzen Text der Ode „An Leukonoë“ zu lesen:

Tu ne quaesieris, scire nefas, quem mihi, quem tibi / finem di dederint, Leuconoe, nec Babylonios / temptaris numeros. Ut melius, quidquid erit, pati, / seu pluris hiemes seu tribuit Iuppiter ultimam, / quae nunc oppositis debilitat pumicibus mare / Tyrrhenum, sapias: vina liques et spatio brevi / spem longam reseces. Dum loquimur, fugerit invida / aetas: carpe diem, quam minimum credula postero.

Ich darf das für den geschätzten MMW-Leser übersetzen:

„So frage doch nicht (es zu wissen ist falsch), wann mir die Götter das Ende gesetzt haben werden, wann dir, Leukonoë, und lass babylonische Rechenkünste. Wie viel besser, man erträgt alles, was auch immer sein wird. Ob Jupiter mehr Winter gewährt oder ob es der letzte ist, der jetzt durch hemmendes Felsgeklüft das Tyrrhenische Meer bricht, sei klug: Kläre den Wein und lass aufgrund der kurzen Zeit die lange Hoffnung sein. Während wir sprechen, entflieht neidisch die Zeit: Genieße den Tag und vertraue möglichst wenig auf den nächsten.“

Damit war der ältere Herr zufrieden.