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Seit einigen Wochen wird in Fachkreisen darüber spekuliert, ob die seit Langem bekannten unspezifischen immunmodulierenden Effekte der BCG (Bacille Calmette-Guérin)-Impfung im Rahmen der COVID-19-Pandemie für gefährdete Personen genutzt werden könnten — zumindest so lange, bis eine Impfung gegen SARS-CoV-2 zur Verfügung steht. Denn noch erscheint es nicht ausgemacht, dass dies mit Blick auf hohe Effektivität und Sicherheit tatsächlich in so kurzer Zeit gelingen wird.

Bereits als vor etwa 90 Jahren die BCG-Impfung eingeführt worden war, gab es Beobachtungen, wonach damit nicht nur Tuberkuloseerkrankungen verhindert wurden, sondern auch die Morbidität und Mortalität aufgrund anderer Krankheiten deutlich zurückgingen. So lag in Schweden Anfang der 1930er-Jahre, also vor der Antibiotika-Ära, die Sterberate 0- bis 4-jähriger Kinder bei 11%, mit der Impfung sank sie auf unter 4%. Dies war nicht allein durch die verhinderten Tuberkulose-Fälle zu erklären. Die Beobachtung wiederholte sich in anderen Ländern. Zuletzt bestätigte ein systematischer Review im Auftrag der WHO im Jahre 2016, dass sich die BCG-Impfung günstig auf die Gesamtmortalität auswirkt. Ähnlich verhält es sich mit der Masernimpfung (Higgins JPT et al. BMJ 2016;355:i5170).

Mechanismus des Immuntrainings

Inzwischen versteht man besser, warum dem so sei, erklärte Prof. Mihai Netea von der Universität Nijmegen, Niederlande: Nicht nur das erworbene, auch das angeborene Immunsystem ist lernfähig. Auf epigenetischer Ebene finden bei einer Infektion biochemische Modifikationen der für die DNA-Verpackung im Zellkern maßgeblichen Histone statt, erklärte Netea. Diese bleiben auch nach überstandener Krankheit (zunächst) bestehen. „Das ist vergleichbar mit dem Einlegen eines Lesezeichens in ein Buch.“ Beim nächsten Mal wird dieses sofort auf der richtigen Seite aufgeschlagen, sodass die entsprechenden Gene abgelesen und Proteine zur Immunabwehr produziert werden können. Es handelt sich um eine funktionelle Reprogrammierung nicht nur von Abwehrzellen im Körperkreislauf, sondern auch von Vorläuferzellen. Der Körper ist damit in der Lage, vergleichsweise rasch auf erneute Infektionen zu reagieren.

Tierexperimentell wurde für die BCG-Impfung gezeigt, dass z. B. Staphylokokken- und Candida-Infektionen ebenfalls unterdrückt werden. Virämien traten nach BCG-Impfung weniger ausgeprägt auf, wie bei Probanden festgestellt worden war, die sich mit der Gelbfieber-Vakzine, einem Lebendimpfstoff, hatten impfen lassen. Fazit: Unabhängig von T- und B-Lymphozyten ist das angeborene Immunsystem trainierbar („trainierte Immunität“).

WHO rät zurzeit von BCG-Impfung ab

Wie lange der Trainingseffekt allerdings anhält, ist unklar — Monate, ein bis zwei Jahre? Wer als Säugling die BCG-Impfung erhalten hat, profitiert jedenfalls nicht mehr im Falle des Auftretens eines neuen Erregers wie jetzt SARS-CoV-2. Erforderlich wäre also eine Revakzinierung, um eine gewisse Schutzwirkung vor schweren COVIC-19-Verläufen zu erzielen.

Offenbar haben entsprechende Berichte lokal bereits zu BCG-Impfstoffengpässen geführt. Die WHO sah sich im April 2020 veranlasst mitzuteilen, dass sie die BCG-Impfung ausdrücklich nicht zur COVID-19-Prävention empfiehlt. Die zur Verfügung stehenden Impfdosen sollten, so hieß es, in den Risikoländern für jene Indikation genutzt werden, in der sie nachgewiesenermaßen wirkt: zur Tuberkulose-Prophylaxe.

Eine der größten Studien zur Prophylaxe schwerer COVID-19-Verläufe in Hochrisikogruppen mit Hilfe von BCG leitet Prof. Dr. Nigel Curtis von der University of Melbourne, Australien. In der BRACE-Studie erhalten geplante 10.000 Probanden aus dem Gesundheitswesen randomisiert die BCG- oder eine Placebo-Impfung. Die Nachbeobachtungszeit beträgt 12 Monate. Im Falle von COVID-19-typischen Symptomen dokumentieren die Teilnehmer dies in einer App, gefolgt von der SARS-CoV-2-Testung. Des Weiteren erfolgen in den Gruppen diverse immunologische Tests. Weltweit sind ähnliche Studien aufgelegt worden, hauptsächlich bei medizinischem Personal sowie bei älteren Menschen.

Gleichwohl warnte Curtis vor Fallstricken dieser Impfstrategie: Es sei nicht ausgeschlossen, dass COVID-19 aufgrund der Impfung nun vermehrt mit Symptomen einhergehe. Unklar sei auch, ab wann genau der immunologische Effekt der BCG-Impfung eintrete. Denkbar sei zudem eine Verschlimmerung des Krankheitsverlaufs bei bereits erfolgter SARS-CoV-2-Infektion. Und: Es ist unbekannt, ob die verschiedenen BCG-Stämme immunologisch und klinisch einen Unterschied machen.