Um es klar zu sagen: Ich habe einen Heidenrespekt vor diesem hochaggressiven SARS-CoV-2. Die Bilder aus Italien, Spanien und den USA sind erschütternd. Die vielen Todesfälle schmerzen, auch weil ein Teil davon wohl vermeidbar gewesen wäre. Bei uns läuft das Krisenmanagement insgesamt sehr gut. Jeden Morgen schaue ich als erstes auf die aktuellen Fallzahlen des RKI, hoffend und bangend.

Aber Einiges wird auch übertrieben. Es wird ja manchmal geradezu so dargestellt, als müssten wir an die Türen unserer Praxen Warnschilder hängen: „Achtung, Betreten nur unter Lebensgefahr und auf eigene Verantwortung!“ Da wird uns z. B. geraten, vom 1. bis zum 3. Quartal auf die DMP-Kontrollen zu verzichten, um unsere Patienten nicht zu gefährden. Traut man uns nicht zu, die Praxis-Abläufe verantwortlich zu gestalten?

Neulich hatte ich einen multimorbiden DMP-Patienten, dessen sonst verlässlich um 7,0% liegender HbA1c-Wert innerhalb der letzten drei Monate auf 9,0% geklettert war, trotz regelmäßiger Medikamenteneinnahme. Erklärung: 10 kg Gewichtszunahme, Frustessen, mangelnde Bewegung wegen Corona-Angst: „Keine zehn Pferde bringen mich aus der Wohnung, da draußen lauert das Virus!“ Hätte ich diesen Patienten wirklich neun Monate lang ohne Kontrolle laufen lassen sollen? Wäre der Schaden nicht größer gewesen als das Infektionsrisiko?

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„Da draußen lauert das Virus!“

© MediaProduction / Getty Images / iStock (Symbolbild mit Fotomodell)

Auch unseren körperlich und geistig fitten Hochbetagten kann ich doch nicht empfehlen: Bleibt daheim! Wir haben z. B. eine 88-jährige Patientin, die noch regelmäßig die vier Etagen zu ihrer Wohnung die Treppe nimmt und sich selbst versorgt — alles super! Wenn sie aber jetzt mehrere Monate die Wohnung nicht mehr verlässt, hat sie ganz schnell eine Sarkopenie, baut Kondition ab — und schafft es dann gar nicht mehr ins Erdgeschoss, geschweige denn zurück. Das kann’s doch auch nicht sein!