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Kann er sich bald Gift beim Staat bestellen?

© Rawpixel / Getty Images / iStock (Symbolbild mit Fotomodellen)

Aschermittwoch 2020 war die humanistische Welt in Deutschland in Ordnung. Die vermeintliche Freiheit des Einzelnen hatte gesiegt über den Schutz der Schwachen. Ein Kollateralschaden sei hinzunehmen, formuliert das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zu § 217 StGB Spektakuläres recht beiläufig. Die euphemistisch „Sterbehilfe“ genannte Tötungshilfe soll ein salonfähiges geschäftsmäßiges Angebot werden, da sonst die offenbar das Menschsein definierende Wahlfreiheit zur Selbsttötung eingeschränkt würde. Doch eine „Rechtssicherheit“ für Tötungshelfer wird auch jetzt nicht erreicht.

Der Kolumnist Harald Martenstein brachte es im „Tagesspiegel“ auf den Punkt: „Was ist das Leben noch wert, wenn es uns (oder Gott) nicht mehr gehört?“ Er stellt das Recht auf selbstbestimmtes Sterben für Todkranke in eine Reihe mit der sozialen Isolierung alter Menschen wegen der Corona-Pandemie und diagnostiziert „eine Art Totalitarismus der Fürsorglichkeit.“

Das Urteil der Verfassungsrichter kann so als Meilenstein auf der Autobahn zum sozialverträglichen Frühableben gesehen werden. Es gibt keine „vernünftigen“ Gründe mehr, warum ein Mensch in Deutschland nicht ein Recht darauf hätte, durch einen Dritten getötet zu werden. Zudem fallen sicher jedem mit etwas Fantasie auch gute Gründe ein, warum ein Dritter fordern könnte, dass ein Mensch, der sich dazu nicht äußern kann, getötet werden muss. Der Lebenswert harrt nun der Definition — und es wäre naiv zu glauben, dass diese Definition nicht (auch) von Dritten bestimmt wird.

Die Handlungsanleitung aus Karlsruhe ist unvermeidlich: Das Betäubungsmittelgesetz wird nicht nur für schwerstkranke Menschen in einer Zwangslage den Zugang zu tödlichen Medikamenten zwecks Selbsttötung eröffnen dürfen. Betäubungsmittel müssen nun für jeden einigermaßen nachhaltig Lebensmüden ohne Hindernis verfügbar werden. Für die Ärzte bleibt zu hoffen, dass das die Hilfe zur Selbsttötung nicht auch noch als ärztliche Aufgabe ins Berufsrecht übernommen wird!

Die Verfassungsrichter haben dem Ob, Wann und Wie der Selbsttötung einen maximalen Grundrechtsschutz eingeräumt. Im Grunde müsste sich die staatliche Handlungspflicht nun dazu verdichten, den Wunsch jedes Sterbewilligen zu befriedigen — notfalls indem die öffentliche Hand etwa in Gestalt der GKV tödliche Mittel übersendet.

Man erkennt an diesen Implikationen, welche Verantwortungslast mit einer solch fundamentalen Entscheidung wie jener über gesellschaftliche Regelungen zu Sterben und Tod verbunden ist. Diese Last übersteigt die Fähigkeiten von acht Richterpersonen. Dem Senat hätte Zurückhaltung gut zu Gesicht gestanden — diese ist dem Bundesverfassungsgericht jedoch zunehmend fremd. Es verfestigt sich der Eindruck, dass das Parlament als Ort der Entscheidungen darüber, wie sich die von ihm vertretene Gesellschaft entwickeln soll, vor der Grundrechtsherrschaft eines jeden Einzelnen ausgedient hat.