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Martin Schongauer: Orlier-Altarbild, Jungfrau Maria, „Die Geburt Christi“ (Detail), Öl auf Leinwand (Fichte), um 1470; Musée Unterlinden, Colmar.

Foto: A. Otte, mit freundlicher Genehmigung des Unterlinden-Museums Colmar

_ Auch wenn sie im Internet-Zeitalter zu einer Normalität werden, bleiben Ferndiagnosen unter Medizinern umstritten. Erst recht vorsichtig sollte man sein, wenn es sich bei dem Patienten um die leibliche Mutter Gottes handelt. Doch wenn man in diesem Gemälde eine authentische Dokumentation sieht, ist der Befund eindeutig: Maria hatte zum Zeitpunkt der Geburt ihres berühmten Sohns auffällig lange und schlanke Finger sowie eine Struma des Grads II bis III.

Die Darstellung ist ein Ausschnitt aus der Innenseite des sogenannten Orlier-Altars („Geburt Christi“). Gemalt wurde sie von Martin Schongauer (1445–1491), der schon zu Lebzeiten für seine Kunst bekannt und berühmt war. Das zwischen 1470 und 1475 erstellte Altarflügelpaar ist eines seiner wenigen erhaltenen Gemälde. Ursprünglich von Jean d’Orlier für das Antoniterkloster in Isenheim gestiftet, ist es heute im Musée Unterlinden in Colmar ausgestellt.

Es ist anzunehmen, dass der Maler eine reale Person seiner Zeit als Vorlage für das Gemälde gewählt hat. Diese hatte vermutlich eine — zur damaligen Zeit gar nicht unwahrschein-liche — Jodmangelstruma. Jodmangel ist mit ca. 90% der Fälle die mit Abstand häufigste Ursache eines Kropfs. Aber auch Schilddrüsenautonomien, Autoimmunerkrankungen, Entzündungen, Zysten und Tumoren sowie bestimmte strumigene Substanzen und Medikamente können verantwortlich sein.

Andere Gemälde Schongauers zeigen auch normale Halssituationen. Ob die dargestellte Frau aufgrund der Auffälligkeiten der Hände zusätzlich ein Marfan-Syndrom aufwies, ist eine schwierigere Frage.

Naturalistische Maler der Vergangenheit können uns durchaus interessante Aspekte damaliger Krankheiten aufzeigen und unseren Blick für heutige aktuelle Diagnosen schulen [vgl. etwa Asensi V et al. Evidence of hypothyroidism in a portrait by Lorenzo Lotto. Lancet Diabetes Endocrinol. 2019;7:14].