figure 1

Prof. Dr. med. H. Holzgreve Internist, München

_ Ausgewertet wurden Registerdaten von 244.328 Patienten ab dem 70. Lebensjahr, die in den Jahren 2011–2015 von 415 niederländischen Allgemeinärzten erhoben wurden. 55.309 Patienten hatten eine kardiovaskuläre Erkrankung. Demografische Angaben lagen ebenso vor wie Daten zu Arzneimittelverordnungen und Begleiterkrankungen. Als guter Gradmesser für Gebrechlichkeit und Lebenserwartung wurde der Drubbel-Frailty-Index errechnet.

figure 2

Problem Übermedikation.

© Dmitry Fisher / Getty Images / iStock

Die Analyse zeigte, dass 69% der Senioren mit einer kardiovaskulären Erkrankung Lipidsenker erhielten. Von den nicht vorerkrankten Probanden waren es 36%. Die Häufigkeit der Therapie ging mit dem Alter zurück. Unter den Patienten mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko nahmen 78% der 70- bis 74-Jährigen die Medikamente, aber nur noch 29% der über 90-Jährigen. Bei Patienten ohne Vorerkrankung sanken die Zahlen von 37% auf 12%.

In allen Altersstufen und unabhängig vom Gefäßrisiko erhielten gebrechliche Patienten häufiger Lipidsenker. In der Altersgruppe 70–74 lag die Verordnung bei Senioren im höchsten Terzil der Gebrechlichkeit um 11 Prozentpunkte über jener im unteren Terzil. In der Altersgruppe ab 90 Jahren betrug der Unterschied sogar 40 Prozentpunkte.

KOMMENTAR

Die Daten zeigen, dass viele Ärzte sich nicht an den Leitlinien der Fachgesellschaften orientieren. Denn die medikamentöse Lipidsenkung zur Primärprävention wird im Alter über 70 Jahren nicht empfohlen bzw. nicht angesprochen. Doch unsere holländischen Kollegen rezeptieren jedem dritten Senior Statine zur Primärprävention. Es stimmt zwar, dass der Nutzen dieses Vorgehens durch methodisch zuverlässige Studien nicht widerlegt wird — aber auch nicht gestützt.

Bemerkenswert ist außerdem, dass sich die Expertengremien vor Empfehlungen und Vorschlägen drücken, die höchste Praxisrelevanz hätten. Diese wären zwar nicht beweisgestützt, aber vernünftig und plausibel. So fehlen in den Leitlinien z. B. Hinweise, ob und unter welchen Bedingungen eine in jüngeren Jahren begonnene Lipidsenkung im hohen Alter beendet werden kann oder soll. Solche Defizite führen zu fragwürdigen Therapiegewohnheiten.

Unverständlich bleibt auch die Beobachtung in dieser Studie, dass Patienten mit hohem Frailty-Index — also gerade jene, die körperlich bereits beeinträchtigt sind — häufiger Statine erhalten als gesunde, fitte Personen. Eigentlich wäre doch das Gegenteil plausibel: Einen möglichen Nutzen der Therapie werden Patienten mit eingeschränkter Lebenserwartung wohl nicht mehr erleben. Es bekamen also eher die Falschen Statine.